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Donnerstag, 21. Juli 2011

17.07. 2ème ètape: Hyèvre-Paroisse–Besançon (48,47 km, 2:48:30) Risque du Noyade!

„Sushi Besançon – c'est avec du fromage.“

Irgendwann in der Nacht wache ich kurz auf und habe Probleme mit dem Gleichgewicht. Am Alkohol kann es nicht liegen, ich entscheide mich für Weiterschlafen. Am Morgen kommt das Problem unvermindert, ich kann mich aber stabilisieren, und nach dem Frühstück ist alles wieder im Lot.

Frühstück ist gut: geschälte Orangen zum Selberpressen, sehr gute Croissants, Wurst und Schinken ebenfalls OK. Der Café ist Zichorienqualität, rings an den Wänden hängen Sammlerkästen gefüllt mit Modellautos und -motorrädern im Maßstab 1:43.

Café, eau, lait.
Augen oweh.

Draußen schüttet es wie bei Weltuntergangs, aber wir haben keine Wahl. Sollen unsere Klamotten doch mal zeigen, wie sie mit echtem Regen umgehen. Nach dem Aufpacken zögern wir zunächst noch, obwohl das Wetter dazu keinen Anlass gibt. Also fahren wir halt.

Da fällt der Abschied leicht.

Die Strecke ist sensationell, wenn jetzt noch die Sonne schiene, würde man ständig schreien vor Glück. Erster Stop in Beaume-les-Dames, wir suchen Schutz bei Super U. Dort trifft man erfahrungsgemäß nette Leute, heute ein Ehepaar aus Orléans, das dem Eurovélo 6 mit Tandem und Anhänger folgt und in einem leeren Einkaufswagen-Unterstand Schutz vor der Nässe sucht. Sie freuen sich sichtlich, dass ihnen jemand Gesellschaft leistet, wir klären schnell die jeweiligen Starts und Ziele ab und erfahren bei dieser Gelegenheit, dass es in Frankreich einen Rad-Reiseführer für den Weg gibt. Das System ist ähnlich, wie wir es von bikeline kennen, wenn wir in Besançon ein Exemplar kriegen (seulement sur commande), dann kaufen wir's.

Der Gegenverkehr beschränkt sich auf insgesamt zwei oder drei Paare, die uns mehr oder weniger glücklich entgegen kommen. Irgendwo passieren wir vier Jungs, die wild campen und jetzt neben ihrem Zelt die Regenzeit abwarten. Nach 15 Kilometern der nächste Halt, diesmal in Laissey bei Stanley Black & Decker, die an dieser Stelle keinesfalls Bohr- und Schleifmaschinen produzieren, sondern Überwachungssysteme. Wir knuspern zwei Bananen, werfen die Schalen naturverbunden in die Flora und strampeln weiter.

Noch 20 Kilometer Regen bis Besançon.

Irgendwann hat sich auch die letzte Wolke über uns ausgeschüttet, so dass die verbleibenden Kilometer bis Besançon regenfrei absolviert werden. Da die Gore-Socken den Fluten doch nicht gewachsen sind, stehen unsere Füße und Schuhe rund eineinhalb Stunden komplett unter Wasser. Irgendwann kommen wir an Kilometer 100 des Doubs-Radwegs vorbei, die Markierung steht Kopf, wahrscheinlich weil die Bautrupps an zwei Punkten mit dem Arbeiten begonnen und jeder Trupp seinen Fortschritt individuell dokumentiert hat.

100 km = 10 Millionen Euro = unzählige zufriedene Europäer.

Kurz vor Besançon geht's nochmal über eine Brücke, kurz danach schlägt uns der Gestank einer Kläranlage ins Gesicht. In mehreren großen Becken sprudelt die braune Brühe aus senkrecht stehenden Rohren, ein Schild am letzten Becken warnt vor dem Risiko des Ertrinkens. Ich glaube, wer hier ertrinkt, ist vorher erstickt und dann tot ins Becken gefallen.

Stiller Fluss, wenige Kilometer vor der Stadt.

Das erste, was wir von Besançon sehen, ist Vaubans Zitadelle. Darunter liegt am Fluss die sterbende Vorstadt Morre, deren Fabrik- und Wohngebäude entweder bereits dem Verfall oder wenigstens dem Makler zum Verkauf übergeben wurden. Der Doubs führt uns weiter am Hospiz zum Heiligen Geist vorbei, der Uferweg ist so schlecht, dass wir die erste Röhre links hinauf zur Stadt nehmen.

Links Heilg Geist, rechts Fort de Brégile.

Oben angekommen, stockt uns erstmal der Atem. Wir stehen auf einem großen Platz vor dem „Musée des beaux-arts et d'archéologie“, die Häuser rund um den Platz sind erbaut aus großen, hellen Kalksandstein-Quadern, alles wirkt mächtig, majestätisch. Im Museum erfahre ich, wo die Touristeninformation ist, wir fahren hin, sie ist geschlossen.

Die Mitarbeiter sind aber noch da, und eine der Damen hat Mitleid mit mir, empfiehlt mir das „Hotel du Nord“ sowie eine Brasserie in dessen Nähe fürs Abendessen. Mit Eintritt in das Hotel haben wir endlich Frankreich erreicht: Die Chefin ist locker über 80 und trägt T-Shirts von Kookai. Das W-Lan ist schnell und kostenlos, aber die Belegungsliste wird noch per Hand geführt. Und im Zimmer sind die Wände mit Teppich bespannt, das Klopapier gibt's nicht von der Rolle, sondern in Scheibchen, und auf knapp zwei Quadratmetern Bad steht ganz selbstverständlich ein Bidet.

Vor dem Fenster das Milieu.

Wir streifen nach dem Duschen durch die Stadt, es ist der helle Wahnsinn. Ein unglaublicher Mix von Menschen unterschiedlichster Herkunft, phantastische Gebäude, unzählige Bars, Brasserien und Restaurants, an jeder Ecke eine Brücke über den Doubs, der die ganze Altstadt umfließt. Unsere Brasserie hat leider Jahresurlaub, so dass wir die Dame im Office du Tourisme nochmal belästigen müssen.

Sie erinnert sich zunächst nur dunkel, erschrickt dann aber über die Nachricht, dass die Brasserie urlaubt, und denkt über Alternativen nach. Einer der beiden jugendlichen Mitarbeiter schlägt Sushi vor, meinen Hinweis, dass wir wegen Sushi nicht nach Besançon gekommen sind, kontert er mit dem Hinweis „Sushi Besançon – c'est avec du fromage.“

Heilig Geist aus anderer Perspektive.
Die Franzosen „können“ Plätze.

Wir lassen uns lieber von den Empfehlungen seiner Kollegin leiten und schauen uns die beiden Brassierien am Place Granvelle an. Da Mo schon um sechs der Hunger quält, stellen wir uns noch am Crêpes- und Gauffres-Stand an und bestellen 1x Sucre, 1x Chocolat. Folge: Ich verkleckere meine Hose mit der flüssigen Schokolade, d.h.: zurück ins Hotel, auswaschen, trocken, Bügelfalte sorgfältig nachstreichen.

Ab halb acht verbringen wir den Abend mit viel Vergnügen im 1802, die vier Holländer zwei Tische weiter werden wir am nächsten Morgen im Hotel wieder treffen.

Victor Hugo, 2011.

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