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Montag, 18. Juli 2011

15.07. Prologue: Gundelfingen–Altkirch (112,94 km, 6:06:19) Emportez vos Déchets!

„Sie haben aber viel Gepäck!“

Das Aufwachen im Schlegelhof ist schon etwas Besonderes. Hier ist nichts wie anderswo, jedes Detail atmet die Tradition und das Denken der Familie: individuell gearbeitete bzw. neu gestaltete Möbelstücke, Türe, Fußböden, feine Stoffe, schönes Dekor; man hat ein echtes Heile-Weilt-Gefühl. An den Wänden schöne Bilder der Schwiegertochter, die auch das Frühstück positiv beeinflusst.

Neben einer „Müsli-Ecke“, die diesen Namen wirklich verdient, stehen eine erstklassige Brotauswahl, selbstgemachte Marmeladen, viel frisches Obst sowie ein regionales Wurst- und Käsesortiment bereit. Dessen Highlight sind drei Käse vom Ziegenhof in Horben, einer mit Honig, einer mit Olivenöl-Balsamico und einer mit Kräutern angemacht. Wir hätten die ganze Platte putzen können.

Zur Untermalung läuft nicht das Radio, stattdessen lässt das Haus uns von Van Morrison und Kenny G. unterhalten. Am Nebentisch sitzt ein fröhliches deutsch-asiatisches Pärchen, das die Speisenauswahl, das Ambiente und den Blick über die einladenden Wiesen ebenfalls sichtlich genießt. Wir wechseln ein paar Worte, dann müssen wir los – wir haben ja zwei Termine in Gundelfingen.

Punkt zehn sind wir bei Europcar und geben unsere schwarze Wunderwaffe unversehrt ab. Die Herren vom Team sind etwas neidisch, stimmen aber unserer These zu, dass an so einer elektronischen Luxusmaschine auch jede Menge und für teuer Geld kaputt gehen kann (Pech für Christineke, die wohl ein paar Runden mit uns drehen wollten).

Schräg gegenüber bei tout terrain warten unsere inspizierten Zweirad-Cabrios, die Mitarbeiter sind freundlich, aber ihre Blicke schwanken zwischen belustigt, verzweifelt, ungläubig und mitleidig. Aus einem platzt dann „Sie haben aber viel Gepäck.“ heraus, was ich zum Anlass nehme, unsere Zuladung noch einmal mit Mo zu besprechen. Wir entscheiden, einen Teil der Taschen nach Möglichkeit in Cuisery zu lagern und den weiteren Weg mit weniger Gewicht anzugehen.

Dann geht's hinaus in den Badischen Gemüsegarten: Zwetschgen, Birnen, Mirabellen, alles direkt am Baum oder hin und wieder abgewogen und in Plastikschalen angeboten. Als ich mich endlich durchgerungen habe, die nächste Möglichkeit zum Einkauf zu nutzen, ist das Angebot schlagartig beendet – geschieht mir recht!

Über Umkirch, Gottenheim und Ihringen erreichen wir Breisach, wo wir bei der Post nochmal deutsche Euro tanken und anschließend über die Brücke nach Frankreich einfallen. Zwischen Vogelsheim und Neuf-Brisach gibt's wieder Mittagessen vom Intermarché, wir essen es gleich zwischen zwei Autos auf dem Parkplatz.

Frisch gestärkt fahren wir über Fessenheim südwärts in Richtung Ottmarsheim, plötzlich und unerwartet führt der Weg schnurgerade in den „Forêt de la Harth“, den wir auf den nächsten 20 Kilometern nicht mehr verlassen werden. Mit „Emportez vos déchets!“ macht uns der Franzose gleich am Beginn des Weges klar, was er von uns erwartet. Andere kann er kaum meinen, denn auf der gesamten Strecke begegnen uns maximal zehn Menschen.

13.000 ha Wald und wir mittendrin.
Unser Ziel vor Mulhouse, auf dem Waldweg entspannt umfahren.

Vor Mulhouse überlegen wir kurz, welche der angebotenen Möglichkeiten wir für die Weiterfahrt nutzen wollen, da spricht uns ein Franzose an, warnt uns vor diversen Baumaßnahmen und rät zur Umgehung über die Peugeot-Fabrik. Auf dem neuen Weg fragen wir einen weiteren Einheimischen, der uns anbietet, mit ihm einen anderen Weg zu fahren, was wir annehmen. Er bringt uns zufällig exakt an die Stelle, an die wir sowieso wollten, der Rest ist eine wilde Fahrt durch Rixheim und Riedisheim, die südlichen Vororte der Stadt. Es geht steil hinauf, es geht steil hinunter, und tatsächlich erreichen wir genau den Punkt, an dem wir von der Avenue du Bâle auf den Radweg am Kanal wechseln können.

Die letzten Meter raus aus der Stadt fahren wir schon wieder am Kanal.

Am Quai de l'Alma erwartet uns als Abschiedsgruß noch ein „spectacle“: Oberhalb des Weges steuert die Regisseurin Musik, Ton und die drei Darsteller, die am gegenüberliegenden Ufer eine kleine, eifersüchtige Balletproduktion zum Besten geben. Leider ruft die tretende Pflicht, so dass wir das blutige Ende nicht abwarten können.

Jede Schleuse hat ihr Häuschen, wir sind völlig aus selbigem.

Mit Brunstatt beginnt eine völlig andere Welt: kleine Dörfer, ein spiegelglatter Kanal, nahezu völlige Ruhe. Es ist Freitagnachmittag an beiden Seiten des Ufers tut der Franzose, was er nach landläufiger Meinung sowieso am besten kann savoir-vivre und laissez-faire. Le chat ruht im Chatten, wir haben das Gefühl, hier richtig zu sein. Bei der Schleuse Zilisheim beobachtet eine Gruppe von etwa zehn Personen die Durchfahrt einer Penichette, wir fragen eine der Damen, wo wir eine Bleibe für die Nacht finden können.

Bei ihr und allen Umstehenden breitet sich Ratlosigkeit aus.

Auch im weiteren Verlauf des Weges ernten wir mit unserer Frage Schulterzucken; ab Kilometer 85 ist das kein positives Signal.

Schöne Aussichten, außer für Zimmersuchende.

Auf Höhe von Heidwiller rufen wir das Hotel an, dessen Erreichen wir vor zehn Kilometern noch als unvorstellbar definiert hatten, und reservieren Bett & Tisch. Die Dame des Hauses ist zuversichtlich, dass wir bald da sind, das macht uns Mut, erweist sich aber als voreilig. Denn wer Heidwiller sagt, muss auch Hagenbach sagen, was weitere sechs Kilometer entfernt liegt. Und wer sich in Hagenbach arriviert fühlt, hat die Rechnung ohne den Anstieg nach Altkirch gemacht.

Gleich da! Von wegen!
„Nur noch sieben Kilometer“ ist beim Stande von 105 Tageskilometern keine sooo gute Nachricht.

Am Ende des Tages erreichen wir dann doch noch unser Ziel, es ist so spät geworden, dass wir es gerade noch unter die Dusche und erst um zwanzig nach acht ins Restaurant schaffen. Nach Bier und Picon-Bière nimmt Mo das Menu mit etwas Fisch, gefolgt von einer Caillette und Sahneeis auf marinierten Himbeeren, ich versuche, den Kalorienverbrauch vom Tage mit Gänseleberpastete, Zanderfilet und einem Entrcote vom irischen Rind zu kompensieren. Der 2008er Pinot Noir „Réserve Particulière“ von Gustave Lorentz erweist sich als guter Begleiter beider Hauptgänge.

Das Restaurant ist proppenvoll (klar, der Franzose feiert immer noch sein Nationalfeiertags-Wochenende), die drei Leute vom Service leisten Schwerstarbeit, und unter den Gästen sticht eine ca. 35-jährige Frau hervor, die heute dem role model ihrer Kindheit nachlebt und viel dafür tut, dass man sie bemerkt: It's a headache!