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Montag, 1. August 2011

31.07. 11ème étape: Saint-Gervais-d'Auvergne–Pontgibaud (39,48 km, 2:17:58) (Chutes de pierres)

Quand ça mont et ça descend, c'est fatigant.

So sieht ein gutes Frühstück aus: frisches Apfelmus, selbstgemachte Heidelbeer- und Aprikosenmarmelade, gutes Baguette, Viennoise, guter Café, Cornflakes für Madame.


Ratzfatz weggeputzt.

Die Schweizer vom Nebentisch möchten wissen, was Diesel auf Französisch heißt (ausgerechnet von uns Radfahrern!). Mo sortiert am Rechner die Bilder von gestern, und die Belgier am anderen Nebentisch möchten wissen, ob das Wifi gut funktioniert. Die Belgier am dritten Nebentisch (Eltern um die 80, Tochter Mitte 50) planen für den Tag eine Wanderung, sprechen darüber mit der Kellnerin, und die alte Dame sagt den Satz des Tages. Ich hätte sie küssen können.

Nach dem Packen fahren wir zum Casino zwecks Proviant, danach zum Bäcker fürs Brot. Es ist Sonntag, alle haben geöffnet, der Franzose hat keine Familie.

Wir kennen den Weg: knapp 350 Höhenmeter abwärts, und man muss sagen, runter geht es spürbar leichter als hoch. Ab der Brücke über die Sioule können wir diese These gleich wieder überprüfen, denn die nächsten zehn Kilometer geht es erneut auf 700 Meter hoch, überall verbunden mit akuter Steinschlaggefahr und hin und wieder vorbei an „Sites de la résistance“, die die Tötung junger Franzosen aus der Region im Zweiten Weltkrieg thematisieren. Als Deutscher wird man immer wieder und überall im Land mit der Nazi-Vergangenheit konfrontiert.

In Manzat fällt uns auf, dass wir keinen zusätzlichen Käse gekauft haben, nun ist es nach 12 und damit zu spät. Ab der Mittagszeit hat der Franzose wohl doch Familie. Am Parkplatz brettert der kleine, wummernde Flitzer an, die männermordende, an den wichtigen Stellen richtig proportionierte Französin jüngerer Bauart steigt aus, küsst hingebungsvoll den Fahrer und geht dann mit wippendem Pferdeschwanz ab. Mo meint, es wird ein schwerer Verlust für ihn sein, wenn sie ihn verlässt.

Wir verlassen die D19 zu Gunsten der D413, die nach dem Motto „Kurven sind für Weicheier“ gebaut wurde. Hier geht es stramm geradeaus aufwärts, weitere 300 Höhenmeter bis Sauterre (= Schweineland), wir schieben rund die Hälfte der Strecke. Das ist in der Mittagshitze etwa so erfreulich wie Nesselfieber.

Altes Schild, alte Schule des Straßenbaus.
Ausreißer (ohne Gruppe).
So sieht's aus rund 1.000 Metern Höhe aus.

Auf einer großen, frisch gemähten Wiese packen wir unsere Vorräte aus und campieren für ein knappes Stündchen in der frischen Mahd. Nach viel Baguette und wenig Käse gibt's die Lidl-Melone von gestern, sie schmeckt noch besser als sie riecht.

Karte, Käse, Kochsalz und guten Appetit.

Nach dem Essen fahren wir einige Zeit auf hohem Niveau und sehen zum ersten Mal den Parc naturel régional des Volcans d'Auvergne. Später wir müssen wir wieder runter, zuerst nur ein bisschen nach Pulvérières, dann aber richtig – auf schmaler Straße nach Le Vauriat und dort auf die nahezu leere D943 nach Pontgibaud. Dass es dort ein Hotel gibt, haben wir schon mittags bei der weiteren Tagesplanung gesehen, und wir möchten die Erfahrung von gestern Abend nicht unbedingt wiederholen.

Die Vulcania-Kette nordwestlich von Clermont-Ferrand, südöstlich von uns.

Das Hotel liegt zentral an der Durchgangsstraße und dem wichtigsten Platz im Ort. Der Koch sitzt draußen und macht einen entspannten Eindruck nach der sonntäglichen Mittagessen-Prozedur. Wir halten also an, ich spreche mit Madame, die ein preislich akzeptables Zimmer vorhält und gleich feststellt, dass Mo wohl ein wenig anstrengend ist. Für die Fahrrad-Garage würde sie uns außerdem gern zehn Euronen abknöpfen, ich stelle fest, dass Madame zur geschäftstüchtigen Sorte zählt. Dieser Eindruck wird sich in den kommenden Stunden festigen.

Vor dem Ausruhen noch ein Blick auf die Stadt.

Vor dem Essen noch eine Runde Skype mit München und Frankfurt, alles ruhig. Junior sieht sich gleich mal per StreetView an, wo wir stecken, und plant unseren weiteren Weg für morgen („Geht ja überall bergab.“).

Im Restaurant stehen zwei Menus zur Wahl, es ist Sonntag, der Chef de cuisine hat genug gearbeitet. Wir lassen uns seine regionalen Sachen schmecken, vom Käsesoufflé über die Crépinette vom Schweinsfuß bis zur Crême brûlée ist für jeden etwas dabei.

30.07. 10ème étape: Saint-Pourçain-sur-Sioule–Saint-Gervais-d'Auvergne (69,87 km, 4:11:29) (Allumez vos feux)

Qu'est-ce que tu fais?

Der Tag beginnt mit dem Frühstück in der Hotelkantine mit Wartesaal-Atmosphäre und Jugendherbergs-Essensausgabe. Hier steht der Kaffee auf der Warmhalteplatte, das Müsli ist eine bunte Kellog's-Orgie, die Säfte sind eklig und alles Weitere kommt aus der Packung.

Das einzig Tolle an diesem Frühstück ist der ca. achtjährige Franzosenbub, der plötzlich rein kommt, sich vor uns aufbaut und uns stolz erklärt, dass es hier nämlich „petit déjeuner à la volonté“ gebe und dies ein Vier-Sterne-Restaurant sei. Wir versuchen, die Sterne auf Normalniveau zu reduzieren, da hat er schon das Interesse an uns verloren, denn die Großeltern mit Hund treten auf die Frühstücksbühne. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Opa kann kaum stehen, geschweige denn laufen, er schiebt die Füße langsam vorwärts. Oma ist der eher strenge Typ, sie bleibt mit dem Hund am Tisch, während die männlichen Teilnehmer mehr und weniger zur Essensausgabe stürmen. Am Tisch jault der Hund in höchsten Tönen, der Enkel schmeißt vor Aufregung sein Vier-Sterne-Tablett samt Kellog's-Zeug runter, Opa raunzt ihn an und schickt ihn zurück zum Tisch, wo der Hund noch lauter jault.

Jetzt holt Oma das Frühstück. Der Enkel lässt inzwischen den Hund etwas laufen, zieht ihn zum Tisch, wo er wieder jault. Oma kommt mit Vier-Sterne-Tablett zurück (Opa braucht noch ein bisschen), der Hund springt hoch – gut, dass die Frau noch reaktionsschnell ist und das angestoßene Tablett stabilisieren kann. Jetzt kehrt Opa mit seinem Vier-Sterne-Tablett zurück, der Hund springt hoch – gut, dass der Enkel gnädig ist und den Hund gerade noch zurück zieht.

Im Fernsehen läuft das passende Rahmenprogramm: Norwegen, Schwimm-WM, Formel 1 und Météo in der Endlosschleife. Für dieses Wochende ist der große Bettenwechsel in Frankreich geplant. Nur gut, dass wir Nebenstraßen fahren.

Chantelles Château.

Vorher fahren wir aber zu Lidl, weil: L'idéale c'est Lidl. Da gibt's 1,5 Liter Wasser, das heißt Schinken (Chambon), schmeckt aber nicht danach und kostet nur 22 Cent. Außerdem gibt's für wenig Geld Honigmelonen, die riechen wie Honig und Melonen. So gerüstet düsen wir los – nicht zu Chantal, sondern nach Chantelle, wo es bei zwei Bäckern kein Brot mehr gibt. Am Berg wird per Radar kontrolliert, ob man 50 km/h fährt, hoffentlich erwischen sie mich nicht, ich schaffe nur elf. Weiter geht's, durch beiihr nach Bellenaves, wo die Damen beim Bäcker darüber diskutieren, ob alles richtig angeschrieben war und was nun tatsächlich bezahlt werden muss.

Die Älteste der drei Kundinnen hält einen kleinen, weißen Stoffhund im Arm, den sie unablässig liebevoll streichelt. Sie fragt mich, ob ich auch einen Hund habe, wie ich heiße, woher ich komme. Die Jüngste meint entschuldigend, dass die Alte die Polizei im Ort sei. Ich wundere mich, dass sie keine Uniform anhat, was die Junge ganz einfach erklären kann: Die Alte ist Zivilfahnder.

Der zweite Anstieg des Tages liegt hinter uns.
Wenn es die Gorges und Menschen wie uns nicht gäbe, wäre auch Ébreuil längst ausgestorben.

Im Office du Tourisme von Ebreuil erfahren wir, dass die von uns überlegte weitere Strecke zu den schönsten der Auvergne gehören und ziemlich auf und ab gehen soll. Wir treffen keine Entscheidung, sondern nehmen zunächst am Sportplatz unser Mittagessen ein. Anschließend ein erneuter Blick auf die Karte (wir nutzen ein Super-Angebot der Telekom, das uns für 15 Euro pro Woche unbegrenzten Datenverkehr in Frankreich und Hotspot-Anbindung des Rechners ermöglicht) und dann doch die Entscheidung für die Gorges de la Sioule.

Nach Chouvigny geht es spürbar bergauf, gleich zu Beginn des Anstiegs kommt uns ein Auto voll mit jungen Menschen entgegen, von denen eine/r das tut, was z.B. hier sehr schön besungen wird. Uns hält das nicht vom Strampeln ab, irgendwann ändert sich die Umgebung, wir fahren in eine lange Schlucht, die uns auf den nächsten Kilometern beständig den Atem raubt. Oberhalb der eher flachen Sioule schlängeln wir uns zwischen Berg und Fluss durch die Natur, rechts der brachial behauene Stein, plötzlich eine Tunneldurchfahrt mit Lichtpflicht, links die Schreie von Kindern und Jugendlichen, die in Gruppen entlang des Wassers campen und sich mit hörbarem Vergnügen den Freuden des Kanu- und Kajakfahrens hingeben.

Es geht langsam aufwärts.
Im Licht am Ende des Tunnels.

Obwohl die Gegend absolut touristisch ist und wohl seit Jahrzehnten von solchen Gruppen heimgesucht wird, wirkt alles völlig unberührt und wild. Es gibt Stellen, da habe ich das Gefühl, all das als erster Mensch überhaupt zu sehen. Es gibt Stellen, da  kommen mir tatsächlich die Tränen.

Vor uns das Château, hinter uns der OHA.

Ab der Brücke von Menat wird alles etwas „normaler“, wir wechseln auf die andere Seite der Sioule, treffen am Parkplatz des Château Rocher eine dreiköpfige Familie aus dem tiefsten Bayern (Kfz-Zeichen OHA) und rollen später voller Vorfreude nach Châteauneuf-les-Bains – ein Name, der große, weite Welt, mondänen Badebetrieb, embouteillage des Thermalwassers und sonstige Verruchtheit verspricht.

Das einzige Geschäft, das in Châteauneuf-les-Bains noch blüht.

Die Realität sieht leider anders aus. C-l-B ist ein heruntergekommenes Nest mit stillgelegter Trinkhalle; mit ihrer Sprache schaffen es diese Franzosen wahrscheinlich, auch Pest und Cholera als erstrebenswerte Güter zu etablieren. Im einzigen Hotel am Platz werden sich nicht einmal die Ratten richtig wohl fühlen, und alle Chambre d'hôtes sind bereits belegt.

Mit über 60 Kilometern in den Beinen suchen wir am Ortsende lange nach einer Alternative (Broschüren, Internet usw), am Ende finden wir ein Hotel in Saint-Gervais-d'Auvergne, rufen an und kriegen tatsächlich das letzte Zimmer. Die Frau am Telefon sagt zum Abschied: „Prenez votre temps.“, schon nach wenigen Metern verstehen wir, was sie meinte: Es geht nochmal sieben Kilometer stramm bergauf, von knapp 400 auf über 700 Meter.

Geschafft (in jeder Beziehung)!

Am Ende sind wir völlig am Ende, stellen aber fest, dass sich die Mühe wohl gelohnt hat. Das Hotel hat drei Sterne, das Zimmer ist liebevoll hergerichtet und vergleichsweise super-günstig – allein, im Bad gibt's hinter dem Klo einen Kasten namens SaniBroyeur Pro, der beim Spülen einen Riesenkrach macht, weil er die Scheiße, die im 100-Millimeter-Rohr reinkommt so überarbeitet, dass sie aus einem 45-Millimeter-Rohr wieder rauskommt. Leider ist der Kasten aus weißem Plastik, ich fänd's viel interessanter, wenn er aus Plexiglas wäre.

Sommerlicher Apéritif.
Herbstliche Fassade.

Irgendwann nach acht schaffen wir's zum Essen. Die Chefin sortiert gleich am Eingang aus: Wer ordentlich essen will, darf ins Restaurant, alle anderen müssen mit einem Tisch im Vorraum vorlieb nehmen. Da wir das richtige Angebot wählen, dürfen wir an Ihrem Tresen vorbei und fröhlich speisen: Mo nimmt den Bachsaibling-Salat, eine traditionelle Crêpe (ähnlich wie Cannelloni) sowie eine Kalbsroulade, ich versuche den Blätterteig mit Steinpilzen und Foie gras, die Hecht-Matelote und ein traumhaftes Charollais-Tournedos.

Leider dauert gutes Essen lange und Mo ist nach den drei Gängen so kaputt (vom Tage), dass sie mit einem Stück Pflaumentarte ins Zimmer flüchtet. So entgehen ihr leider die atemberaubende regionale Käseauswahl und der zweistöckige Dessertwagen, die beide aus mir völlig fremden Regionen der Kulinarik stammen. Käse dieser Qualität wird die Auvergne wahrscheinich nie verlassen, natürlich gibt es hie und da (auch in Deutschland) Produkte gleichen Namens, diese erinnern aber nicht einmal entfernt an das, was hier serviert wird.

Bei der Gelegenheit noch ein Wort zum Wein: fein. Bis vor wenigen Tagen hatten wir noch nichts von Auvergne-Weinen gehört, der weiße Saint-Pourçain erinnert Mo an den feinen Riesling von Keller, beim roten Boudes verdreht sie ebenfalls geplättet die Augen.

Das mache ich, als der Dessert-Wagen anrollt. Damit es sich jeder gut vorstellen kann: Die Theke im Café Amendt wird auf zwei Ebenen verteilt und man darf sich nehmen, was man will.