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Sonntag, 22. Juli 2012

24. Mai 2012, der fünfzehnte Tag: Waschtag in Toulouse

Schreiben, waschen, fetten

Früh links erwachen, dann zum Boulanger rechts nebenan. Unsere Gastgeber arbeiten bzw. spielen Tennis, wir versorgen die ausgelaugten Körper mit Kalorien.

Anschließend lassen wir die Waschmaschine rotieren, Mo sortiert auf Evas Rechner die Bilder der letzten beiden Wochen und lädt sie auf einen dieser bösen One-Click-Filehoster hoch, damit sie von anderer Stelle gesichert werden können. Das schafft auch ungemein Platz auf der Speicherkarte. Ich schreibe weiter am Blog, muss aber erkennen, dass 14 Tage Abstand zum Geschehen nur schwer zu kompensieren sind. Es läuft alles andere als flüssig, mehr als zwei Tage schaffe ich nicht, so dass ich beschließe, ab heute jeden Tag zumindest in Stichworten schriftlich festzuhalten und mir damit bessere Voraussetzungen für die nächste Schreibmöglichkeit zu schaffen.

Während die Wäsche auf der von Sonne überfluteten Terrasse trocknet, steuern wir eine Tankstelle in der Nähe an, wo wir unsere verdreckten Räder mit Hochdruck reinigen wollen. Wie der Zufall es will, kommen wir unterwegs an einem Fahrradladen vorbei, eine innere Stimme rät mir, dort Rat zu suchen, und wir erfahren, das Hochdruck die denkbar ungeeignetste Form der Reinigung ist.

Der Händler lädt uns ein, die Räder in seinem Hof mit seinem Schlauch und Wasser zu säubern. Dieses Angebot nehmen wir gerne an, erwerben im Gegenzug das passende Fett und einen Rad-Reiseführer bei ihm. So wäscht eine Hand die andere und am Ende sind alle fein raus.

Hebamme wider Willen an der Supermarkt-Kasse

Gemeinsam mit Eva fahren wir später bei 28 Grad Außentemperatur raus ins Einkaufszentrum, wo sie das Alltägliche und wir das – zumindest für uns – Besondere erwerben. Die beiden kommen im August in die Heimat und laden die Schätze dann bei uns ab. Apropos Schatz: Madame Leclerc kassiert uns freundlich ab und verabschiedet uns mit der ebenso freundlich gemeinten Erkenntnis, dass es für Eva bestimmt schön sei, wenn ihre Eltern sie besuchen.

Es dauert einen Moment, bis alle Betroffenen die Tragweite dieser Anmerkung realisieren, ihren Ursprung schieben wir auf die Tatsache, dass wir alle eine Brille tragen und aus Deutschland kommen. Danach gehen Mo und ich in die nächste Drogerie, um den Erwerb geeigneter Haarfärbemittel zu prüfen.

Zurück im Haus gibt's leckere Törtchen vom benachbarten Bäcker, danach wird die mittlerweile getrocknete Wäsche reisefertig verpackt. Und schon ist wieder früher Abend, Zeit für den Apéritif.

La Place de la Trinité am frühen Abend

Von der Rue des Filatiers schlagen wir uns später durchs Zentrum der Stadt bis auf den Boulevard de Strasbourg, wo René uns vier schöne Plätze in der warmen Abendsonne frei gehalten hat. Die Karte ist von Hand auf kariertes Schulheft-Papier geschrieben. Eine der Karten trägt auf der Rückseite in gleicher Schrift die Frage „Pourquoi tu ne me crois pas?“, was dem Tischgespräch zusätzliche Dynamik verleiht.

Es gibt Salade de gésiers, Raviolis maison, Tournedos rossini gefolgt von Rocamadour und Crème de marrons. Das Ganze wird begleitet von launigen Gesprächen (s.o.), einer munteren Kellnertruppe, interessanter Interaktion zwischen besagten Kellnern und der überproportional großen Schar weiblicher Gäste sowie drei Flaschen Rotwein. So wird der Heimweg über die auch zu später Stunde gut gefüllten Plätze und Straßen von Toulouse zum großen Vergnügen.

La Place du Capitole am späten Abend

Oh, là, là – Madame fotografiert mit Schlagseite

Samstag, 21. Juli 2012

23. Mai 2012, der vierzehnte Tag: Castelnaudary–Toulouse, 67,46 km

„Ihr habt ja 'n Sockenschuss!“

Während wir bei einem guten französischen Frühstück sitzen, hört der Regen langsam auf. Was ebenfalls verschwunden ist: der Sender meines Pulsgurtes, den ich gestern Abend vor dem Duschen – wie immer – abgenommen und auf dem kleinen Tisch im Zimmer platziert hatte. Da ich ihn auch nach dem Frühstück trotz intensiver Suche nicht finde, denke ich darüber nach, ob der lese- und schreibschwache Kellner eventuell während wir am Essen waren ... (ist ja nur ein Gedanke).

Ich fahre erstmal ohne los, das Teil wird sich schon finden.

Erste Station nach dem Auschecken ist der Supermarché auf der anderen Seite des Platzes, zweite Station das Office du Tourisme auf dem Platz. Drinnen ergattere ich eine Karte und weitere Informationen zur Fahrt aus der Stadt, draußen hat die Gattin schon wieder fremdländische Kontakte geknüpft und warnt zwei Französinnen vor dem Weg, der ihnen in Richtung Mittelmeer auflauert.

Kein Wunder, dass man die Bohnen gestern in höchsten Tönen loben konnte

Wir halten uns vom Kanal fern, folgen stattdessen der D33, die wunderbar asphaltiert ist und uns erst über die Autoroute des Deux Mers und danach durch kleine Städtchen wie Mas-Saintes-PuellesMolleville und Baraigne führt. Unsere letzte Station im Département Aude ist Le Ségala, wo wir mal wieder den Weg nicht finden und Kontakt mit den Eingeborenen aufnehmen müssen.

Das mache ich im örtlichen Garten- und Blumenmarkt, dessen Besitzerin gerade eine Kundin durch die Freiluft-Ausstellung der unbezahlbaren Blumentöpfe führt. Während Mo Letztere ablichtet, amüsieren sich die Damen köstlich über den Gedanken, dass ein Mensch (!) mit einem Fahrrad (!!) am Kanal (!!!) von Castelnaudary (!!!!) nach Toulouse (!!!!!) fahren könnte.

Das Vergnügen endet damit, dass die beiden keine Idee haben, wie und wo das gehen mag. Aber sie wissen immerhin, wo der Kanal fließt. Und dort schicken sie uns hin.

Unbezahlbare Mietwohnung für Pflanzen aller Art

Durch eine Schranke führt ein Weg, der diesen Namen jetzt wieder verdient, auf rotem Sand nach Port Lauragais. Wir folgen ihm entlang einer großen Schleife rechts des Kanals und stehen nach Unterquerung einer großen Brücke plötzlich vor einem nicht vorstellbaren Anblick: Der Weg ist asphaltiert!


Wie es dazu kommen konnte, erklärt ein Schild am rechten Wegesrand:


Je besser das Département, desto besser der Weg. Oder war es umgekehrt?

Incroyable, mais vrai!

Vom ersten Schock erholen wir uns schnell, nun heißt es „Kette rechts!“ und mit endlich wieder normalem Tempo die restlichen Kilometer nach Toulouse abspulen.

Unsere Mittagspause verlegen wir auf einen hübsch angelegten Rastplatz auf Höhe von Villefranche-de-Lauragais. Er liegt zwischen Kanal und Autobahn und ist von beiden Verkehrsadern zugänglich. Auf dem Weg dorthin hatten wir schon drei Enten gesehen, die uns offensichtlich hinterher schwammen und kurz vor Ende der Pause an unserem Tisch auftauchen. Die drei machen schnell deutlich, dass sie nicht zum Spaß gekommen sind, sondern um den Tribut zu kassieren. Wir tun so, als hätten wir nichts gehört, und essen schnell die letzten Reste.

Inzwischen haben wir unseren SMS- und E-Mail-Verkehr mit Eva intensiviert, die immer noch keinen konkreten Hinweis darauf hat, dass wir schon wieder auf dem Weg zu ihr sind. Oder sie hofft inständig, dass dieser Kelch an ihr vorüber fahren möge.

Französische Raubvögel anno 2012

Zwei Kilometer vor Toulouse schicken wir das letzte Foto, jetzt sind wir so nah, dass eigentlich nichts mehr schief gehen kann. Die Antwort kommt smswendend: „Vorbeikommen! Jetzt! Sofort!“

Eva, wir sind dir näher als du denkst ...

Die Einfahrt in die Stadt ist sensationell. Auf der anderen Seite des Kanals liegt ein Hausboot hinter dem nächsten. Alte, neue, große, kleine, schöne, hässliche, bewohnte, verlassene – es ist wie ein Film, der langsam an uns vorüberzieht.

Da wir den Canal du Midi inzwischen für den Nabel der Welt halten, folgen wir ihm immer weiter, ohne wirklich zu wissen, wohin das führen soll. Schließlich wohnt Eva auch am Kanal, da werden wir also irgendwann bei ihr vorbei kommen.

Mein Haus, mein Boot, mein Kanal

Dieser auf den ersten Blick schlüssige Gedanke erweist sich spätestens an der Stelle als falsch, an der wir am Treffpunkt der Autobahnen A61, A620 und A623 mit den Europäischen Fernstraßen E72, E80 und E9 sowie diversen unscheinbaren Nationalstraßen wie der D19, D19a und D916 stehen und feststellen, dass es auf dem Trampelpfad entlang der Leitplanke einfach nicht mehr weiter geht.

Leider ist gerade keiner da, den man jetzt nach dem Weg fragen könnte, so dass erneut das Telefon herhalten muss. Es zeigt uns, wo's lang geht: Erst müssen wir ein ganzes Stück zurück, dann durch einen Park, durch die halbe Stadt und am Ende noch schnell über zwei große Brücken. Keine fünf Kilometer später stehen wir vor der gesuchten Tür.

Die Dame des Hauses hat die Flucht ergriffen, ein Handwerker öffnet uns, erklärt, dass Madame gleich wiederkommt, und macht die Tür wieder zu. Sie kommt tatsächlich Sekunden später, schaut uns zweifelnd an und sagt: „Ihr habt ja 'n Sockenschuss!“ Na, wenn das kein freundlicher Empfang ist ...

Hier haben wir uns ein Bett geangelt

Wir müssen mit reinkommen, kriegen ein Zimmer zugewiesen und dürfen duschen. Danach setzen wir uns oben auf die Terrasse, trinken ein Bierchen – wir sind ja völlig unterhopft – und erzählen. Eva ruft ihren Mann an, verabreicht ihm die frohe Botschaft in kleinen Dosen. Er beschließt, den Arbeitstag sofort zu beschließen und heim zu kommen.

So sitzen wir noch ein bisschen zu viert im Freien und machen uns gegen sieben auf den Weg in die Stadt. Den Apéritif nehmen wir im „Le Matin“, das Abendessen gibt's direkt nebenan.

Das Essen ist so lecker wie im Januar, als wir die beiden Tolosains schon einmal überfallen haben. Die Chefin ist so entspannt wie wir sie damals kennenlernten, daran ändert sich auch nichts, als zwanzig juvenile AmerikanerInnen alle noch freien Plätze besetzen. Sie nimmt in aller Ruhe die Bestellungen auf und ruft dann beim Lieferanten ihres Vertrauens an, um Huhn und weitere Zutaten zu bestellen. Kann sein, dass dies die Nahrungsaufnahme etwas verzögert, dafür ist alles frisch.

Wir sind das definitiv nicht mehr, deshalb gehen wir schlafen. Morgen haben wir einen harten Ruhetag vor uns.

So enden schöne Abende in Toulouse

Freitag, 20. Juli 2012

22. Mai 2012, der dreizehnte Tag: Homps–Castelnaudary, 61,68 km

„Monsieur, c'est très compliqué.“

Nach dem harten Vortag fängt der neue Tag gleich viel besser an: Frühstück im Hotel, Cornflakes für Mo (alles wird gut) und ein kurzes Gespräch mit den schon wieder völlig neu eingekleideten Ohne-Gepäck-Fahrern von gestern Abend.

Das Pärchen kommt aus Belgien und will innerhalb einer Woche von Narbonne nach Toulouse und wieder zurück fahren – insgesamt etwas mehr als 300 Kilometer, also durchschnittlich 40–50 Kilometer am Tag. Das sollte selbst für untrainierte 35-Jährige keine unlösbare Aufgabe sein, besonders wenn man weiß, dass der Schrankkoffer im Materialfahrzeug von Etappenziel zu Etappenziel transportiert wird.

Trotzdem sind beide, wenn auch unausgesprochen, so doch nicht minder offensichtlich unzufrieden. Wir schieben das auf folgenden Hintergrund: ER wollte unbedingt eine Radtour mit ihr machen. So wie „Il était une fois“, voller Romantik, auf zauberhaftem Weg und diesen vielleicht sogar in eine gemeinsame Zukunft. SIE fand diese Idee weniger überzeugend, ließ sich aber durch massive Zugeständnisse seinerseits und einer ebenfalls auf gemeinsame Zukunft ausgerichteten Perspektive ihrerseits breitschlagen (Gepäcktransport, kurze Etappen, evtl. fest fixierte Tempolimits usw.).

Und dann entscheiden sie sich ausgerechnet für den Canal du Midi, ausgerechnet in dieser Woche, die geeignet scheint, jede Beziehung in Matsch und Regen untergehen oder vom Winde verwehen zu lassen! Na dann, weiterhin gute Fahrt!

Bonjour et bienvenue au Canal du Midi

Wir fahren kurz nach halb neun los, der Regen hat verständlicherweise aufgehört, denn er hat dem Weg über Nacht schon derart zugesetzt, dass er am Tag nichts Schlimmeres mehr anrichten kann und deshalb nicht weiter gebraucht wird.

Anfangs spielen wir wieder das Spiel von gestern: unten im Matsch, bis es nicht mehr geht, dann oben im Sturm, bis es nicht mehr geht. Den Höhepunkt dieser äußerst kurzweiligen, weil abwechslungsreichen Form des Reisens erleben wir am Rande der viel befahrenen D610. Irgendwo vor Marseillette zwingt uns der Sturm erst vom Rad und dann dazu, eine längere Strecke zu schieben. Ein bisschen Regen fällt dann auch noch, und so können wir unsere Tour durch ein weiteres bleibendes Erlebnis ergänzen.

Im Ort angekommen, informieren wir uns bei der Boulangeuse nach den Angeboten des ÖPNV (gibt's hier nicht), stärken uns mit zwei Cafés in der Bar gegenüber und machen uns am Ende notgedrungen wieder auf den Weg in den Matsch.

Stadt-, Palast-, Festungs- und Brückenbauer: Vauban, the man

Ein Kanal ist ein Kanal ist ein Kanal (auch wenn er mal nicht so aussieht)

Zum Mittagessen verschlägt es uns bei Trèbes in den (Wind)Schutz einer Bushaltestelle. Gegenüber eine lange, frisch verputzte Mauer, die ein (dem Alter nach) bereits pensionierter Maler mit besonderer Technik färbt: Die Farbe transportiert er in einer großen Schubkarre, mit einem Metalltrichter, wie ich ihn zuvor nur wesentlich kleiner und nur bei den Pommes frites eintütenden Mitarbeitern einschlägiger Burgerbrater gesehen habe, schaufelt er sie in einen Eimer, der wiederum per Schlauch an eine Spritzpistole angeschlossen ist.

Mit ihr geht er entschlossen gegen das schmutzige Weiß der Mauer vor. Er sprüht, was das Zeug hält, der heftige Wind trocknet die Farbe en passant, und der Maler sprüht wieder und wieder über den gerade getrockneten Untergrund. So entsteht vor dem Auge des ungläubigen Betrachters genau jener Eindruck vollkommener Unvollkommenheit, den uns Firmen wie Alpina oder Molto mit passend benannten Produktserien verkaufen möchten.

Le Canal du Midi – très malérique

Wenig später nähern wir uns Carcassonne. Der Regen hat mal wieder aufgehört, es wird etwas wärmer und angenehmer. Vor dem Ortseingang treffen wir den Hund wieder, der im gleichen Hotel wie wir übernachtet hat. Er hat Frauchen im Schlepptau, das sich von ihrem drahtig-knackigen Begleiter durchs Gelände hetzen lässt, weil: Er braucht das.

Eine schöne Strecke führt uns ins Stadtzentrum, um kurz vor drei stehen wir im Hauptbahnhof und ich frage nach einer Bahnverbindung nach Castelnaudary, dem bereits hotelreservierten Ziel der heutigen Etappe. Wir haben die Faxen nämlich ziemlich dicke und uns entschlossen, dem inzwischen doch recht grausamen Spiel mittels Bahnfahrt ein Ende zu machen. Die Dame am Schalter weiß, dass der nächste Zug in zwei Stunden und zehn Minuten fährt, sie sagt auf Nachfrage außerdem, dass die Strecke zu unserem Ziel etwa 35 Kilometer lang ist.

Das bedeutet: eine ziemlich lange Wartezeit für eine ziemlich kurze Strecke. Wir gehen kurz ins uns, entdecken dort den Radfahrer und treffen eine 1a Fehlentscheidung – wir fahren weiter.

Was wir in Carcassonne gelernt haben: Wenn du Bahn fahren willst, dann fahre Bahn!

Am Kanal erwartet uns eine Seenlandschaft, die ein entgegenkommender Radfahrer als vorübergehende Erscheinung beschreibt. Danach soll es besser werden.

Nach zwei Kilometern stellen wir fest, dass richtig und falsch manchmal nah beieinander liefen. Einerseits wird es besser. Andererseits immer noch nicht so gut, dass man von Radfahren sprechen könnte. Irgendwann rutsche ich im Matsch weg und stürze, das hat aber keine nennenswerten Folgen für Ross und Reiter.

Mit der Zeit stellen wir fest, dass unser Stundenmittel auf etwa fünf bis sechs Kilometer gesunken ist. Parallel erkennen wir, dass die von der Bahnfrau genannte Entfernung für die Schiene und nicht für die Schlingen des CdM gilt. Gegen sechs rufe ich in unserem Hotel an und bitte um eine Taxi-Rufnummer, der Kollege am Telefon kann sie mir nicht nennen (s.o.). Ich schlage vor, dass er eine sucht und ich in ein paar Minuten nochmal anrufe.

Es gibt Radwege, da ist man auch mit gutem Rad schlecht beraten

Auch der zweite Anruf bringt keinen Erfolg, mein Gesprächspartner wird nur zunehmend unfreundlich. Per Telefon (endlich machen sich Smartphone und günstiger Telekom-Wochenpass bezahlt) finde ich einen Taxiunternehmer in Castelnaudary, dem ich unser Problem erkläre und der sich bereit erklärt, uns abzuholen. Wir vereinbaren den Ortseingang von Sainte-Eulalie als Treffpunkt, fahren ein paar Hundert Meter und warten in der Einfahrt zum ersten Haus.

Es wird kalt, der Wind nimmt zu, und kein Taxi kommt. Nach zwei weiteren Telefonaten und etwa einer Stunde Wartezeit kommt er dann endlich – er hat uns am anderen Ende der 120-Seelen-Gemeinde gesucht. Die Räder passen tatsächlich in den normalen Mitsubishi, und auch wir finden irgendwo noch Platz. Unterwegs wundert sich unser Fahrer mit uns, dass das Hotel uns keine Telefonnummer geben konnte. Als wir gegen halb acht ankommen, nimmt die Verwunderung zu: Direkt neben dem Haus befindet sich ein Taxi-Halteplatz.

Der Patron wundert sich kurz darauf mit uns, und alle wissen sofort, wer die Sache verbockt hat: der Kellner. Denn außer ihm und einer hoch schwangeren Kollegin gibt es keine weiteren Mitarbeiter. Wir gehen davon aus, dass der Kellner Analphabet ist und die Auskunft einfach nicht geben konnte. Als wir gegen halb neun zum Essen kommen, sind alle ausgesucht freundlich, der Kellner hält Abstand, und es gibt lecker Cassoulet – was auch sonst in der Heimat von diesen und jenen und diesen und jenen.

Dazu einen 2009er Fitou von Bertrand-Bergé, der es sehr gut mit den Bohnen aufnehmen kann.

„Ich fahr' den Matsch von deinen Wegen an meinem Rahmen immer noch mit mir herum.“

Freitag, 13. Juli 2012

21. Mai 2012, der zwölfte Tag: Nissan-lez-Enserune–Homps, 59,42 km

Au Canal du Muddy

Im Lauf der Nacht hat es heftig geregnet, wir frühstücken im Zimmer und schauen auf das bisschen grauen Himmel, das wir von unserem Fenster aus sehen können. Der Regen hört dann doch noch auf, wir ziehen uns wind- und wetterfest an und machen uns schon vor neun auf den Weg nach Narbonne.

Das lässt sich mit dem geplanten Kirchenbesuch schlecht an, denn sie öffnet ihre Türen erst um zehn. Mit dem Weg nach Salles-d'Aude ist es auch nicht besser, er hat zwar geöffnet, der Gegenwind ist aber derart heftig, dass wir entnervt umdrehen und uns gleich in Richtung Canal du Midi orientieren. Das heißt zunächst: bergauf in Richtung Oppidum d'Ensérune.

Von der alten Festung übers neue Land

Romantischer Eingang, ...

... leider kein Ausgang

Oben angekommen, verlieren wir erneut Zeit, weil wir versuchen, dem Kanal durch einen Tunnel zu folgen. Der schmale Pfad an der Seite ist schwer zu meistern und hört am anderen Ende ohne Vorwarnung auf, so dass wir ein Stück schwimmen oder zurück müssen. Wir schieben also zurück, irren wieder ein wenig durch die Umgebung und finden endlich den Zugang zum Kanal: Ein vom Regen der letzten Tage aufgeweichter Wiesenpfad verläuft parallel zum Wasser – so haben wir uns das absolut nicht vorgestellt.

Wenn das ein Radweg ist, möchte man kein Radfahrer sein

Wir verlassen den Matsch, so schnell wir können, und fahren zurück auf die Straße. Das ist allerdings auch keine Lösung, denn sie liegt ein gutes Stück höher und außerhalb der dichten Baumreihen, ist damit ungeschützt und ein Paradies für den Wind, der uns um die Ohren pfeift. Hinter Capestang wechseln wir auf gut Glück immer wieder hin und her, nach ein paar Kilometern biegen wir entnervt auf die D13 in Richtung Ouveillan und weiter nach Sallèles-d'Aude ab.

Bei Maria und Stefan in Capestang

Monumentale Ruhe vor Ouveillan

Entlang der D124 fahren wir weiter westwärts, selten oberhalb des Kanals und gegen den stärker werdenden Wind auf der Straße, meist im Windschatten der Bäume durch den immer tiefer werdenden Matsch am Ufer. Dort unten kommt uns irgendwann ein Tandem entgegen, anfangs parlieren wir auf Französisch, dann setzt sich bei dem anderen Pärchen der englische Akzent durch, und wir machen der Qual durch einen Wechsel ins Englische ein Ende.

Die Kollegen berichten vom noch(!) schlechter (!!) werdenden Weg und von schweren Stürzen in anderen Gruppen, denen sie begegnet sind. Sie selbst sind erst ein Mal zu Boden gegangen und wundern sich, wie sie das geschafft haben. Wir erfahren, dass das Fahren mit dem Wind leichter und angenehmer ist und dass er zum Schutz vor dem Regen eine Duschhaube unter dem Helm trägt, während sie unsere gelben Überzüge favorisiert. Zum Abschied schenkt er uns noch einen Teil seiner Straßenkarte und gibt uns mit verschwörerischer Miene eine Erkenntnis mit den Weg: „You'll get muddy.“

Minervois aude Aude?

Seine Frau empfiehlt uns ein Restaurant am Hafen von Homps, unter blauer Markise seien sie dort freundlichst empfangen und leckerst bekocht worden – „and there's also an Auberge nearby“.

Die ernstzunehmenden Warnungen und der tatsächlich schlechter werdende Weg führen uns erneut auf die Straße, wo der Wind für uns die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzt: Nach einem Einkauf in Roubia fahren wir die D124 ein paar Hundert Meter, dann geht es steil bergab, aber die Räder rollen gegen den Wind nicht hinunter. Erst kräftiges Treten bringt uns vorwärts, die Situation bringt uns eher zur Verzweiflung.

Links sehe ich den Kanal, wir fahren auf einem Ackerweg hin, um an dessen Ende festzustellen, dass es dort nicht weitergeht. In einiger Entfernung ist wenigstens eine Schleuse zu sehen. Wir stapfen schiebend durch den lehmigen Boden eines frisch umgepflügten Ackers. Der Schleusenwärter hat Mitleid und lässt uns (was generell strengstens verboten ist) die Räder über das Schleusentor schieben, auf der anderen Seite angekommen, versuchen wir, unsere Schuhe zumindest notdürftig zu säubern.

Dem ist doch nichts hinzuzufügen

Wenigstens hat mittlerweile der Regen aufgehört, und gegen fünf kommen wir ziemlich geschafft in Homps an. Eine Einheimische, die ich anspreche, kennt keine „auberge nearby“, sondern nur Chambres d’hôtes. Die beiden von ihr genannten Adressen fahren wir an, beide gefallen uns nicht so. In der Ortsmitte sehen wir dann auf einer großen Informationstafel doch die Werbung eines Hotels, das sogar ein bezahlbares Zimmer für uns frei hat. Ein Pärchen ohne Gepäck steht neben uns und kommt kurz nach uns ebenfalls am Hotel an.

Der Patron, Monsieur Scheiwiller, schickt uns mit verschmierten Schuhe die Treppe hoch, wir säubern sie dort, wo wir auch uns säubern: in der Wanne. Hoffentlich sind sie morgen wieder trocken. An die blaue Markise denken wir nicht mehr, erfreulicherweise ist das 22-Euro-Menü im Hause jeden Centime wert. Das Pärchen ohne Gepäck kommt höchst aufgedüst zum Essen, da muss es irgendwo einen Gepäcktransporteur geben.

Zum guten Schluss die weniger warmen Worte der Gattin: „Es ist saukalt, der Wind wird immer stärker, mir kommt's vor wie November. Canal du Midi? Vergiss es!“

Wo der Kanal den Fluss überquert, macht der Matsch eine kurze Pause

20. Mai 2012, der elfte Tag: Palavas-les-Flots–Nissan-lez-Enserune

Vier Zylinder westwärts

Um sieben Uhr schauen wir auf die Straße, draußen geht die Welt unter, und die Prognose sagt, dass sich daran erstmal nichts ändern wird. Wir fragen an der Rezeption, ob wir eine Nacht verlängern können, und stellen den Wecker auf halb neun.

Während des späten Frühstücks überlegen wir, ob es wirklich sinnvoll ist, einen ganzen Tag in einem Hotelzimmer in Palavas-les-Flots zu verbringen. Der Ort ist hässlich, es gibt absolut nichts zu tun oder zu sehen, und wenn wir Pech haben, sieht es morgen früh auch nicht besser aus. Und das bei relativ hohen Kosten, wenn wir Zimmerpreis und Abendessen von gestern addieren.

Irgend jemand fragt: „Wo wollten wir heute eigentlich hin, und was kostet ein Taxi dorthin?“

Im Logis-Verzeichnis finden wir ein Hotel westlich von Béziers, das erstens erreichbar und zweitens einladend wirkt. Man hat Platz für uns, wir reservieren. Unten an der Rezeption streicht der Patron persönlich unsere Verlängerung vom Morgen und kümmert sich um ein Taxi. Dessen Angebot ist günstiger als das Bleiben es wäre, also nehmen wir an (schon klar, damit verdoppeln sich heute die Kosten, dafür sind wir aber auch eine Etappe weiter).

Wo wir wohnen, ...

Das Taxi kommt etwas früher, Mo ist noch einkaufen, ich helfe dem Fahrer beim Verstauen der Räder und interviewe eine Gruppe amerikanischer StudentInnen, die sehr sommerlich bekleidet das Hotel überschwemmen. Sie sind vor zwei Tagen in Paris gelandet, haben gerade Avignon besichtigt („Oh, it's so nice!“), bleiben zwei Tage am Meer und fahren dann für drei Tage nach Toulouse. Von dort geht's zurück nach Paris und wieder in die USA. Na, dafür lohnt sich doch jeder Interkontinentalflug.

Unser Chauffeur schimpft unterwegs auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Die schlechte Infrastruktur der Region (weil alles Geld in die Touristenorte am Meer gepumpt wird), die wachsende Bürokratie im Land, die hohen Steuern, den Niedergang seines ehemaligen Berufes (er war Schlachter, aber: „Le métier est mort“) usw. usf.

Nach einer Stunde erreichen wir Nissan-lez-Enserune, irgendwo unterwegs hat der Regen aufgehört, wir schöpfen Hoffnung. Im Hotel gibt man uns ein nettes Swarovski-Zimmer im Annexe, wir essen das Mitgebrachte, schlafen bis sechs und spazieren anschließend durch den Ort.

... wo die Liebe wohnt, ...

... wo der Bürgermeister wohnt

Das Abendessen beginnt mit einem Apéritif im Altbau, der kleine Salon ist zauberhaft möbliert, am Nachbartisch sitzt ein Mann, der mich an unseren Elektriker erinnert, und aus dem Fernseher an der Wand schallt eine französische Talkrunde.

Zum Essen müssen wir ins Nachbarhaus, der Juniorchef bedient gemeinsam mit einer Mittzwanzigerin, sie wirkt anfangs etwas unbeholfen, erweist sich aber sehr schnell als hoch professionell. Hervorragendes Essen gibt's auch: Tartare de Saumon frais à l’ananas et poivre de séchuan und Souris d'agneau cuite 48h au romarin, poêlée de légumes glacés de saison für Madame, Marbré de Foie gras et Confit de Canard, toast aux céréales und Côte de Cochon cuite à basse température, cocotte d'écrasée au lard fumé et son jus réduit für Monsieur. Letzteres übrigens ein echter Hammer – super-saftig und nahezu fettfrei.

Dazu müssen wir leckeren Wein trinken, und am Ende zwingen sie uns auch noch, Soufflé coulant au chocolat, Glace confiture de lait bzw. Baba au rhum cubique chantilly maison zu essen. Es ist zum Verrücktwerden!

Abends leider geschlossen, wir schauen morgen mal rein