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Freitag, 31. August 2012

2. Juni 2012, der vierundzwanzigste Tag: La Rochelle–Talmont-Saint-Hilaire, 108,13 km

Ins Land von Gâche und Muscadet

Wir frühstücken am Fenster (wenig erfreuliche Aussicht), packen und schauen unten kurz in den „Frühstücksraum“. Er sieht aus wie eine schlechte Jugendherbergs-Kantine mit Selbstbedienung, Plastikgeschirr und -besteck; trotzdem sitzen da Menschen und essen. Das Angebot des Hauses ist laut großem Schild neben der Tür komplett Markenware, und tatsächlich ist alles von KRAFT, Unilever, Danone und Konsorten in Einzelportionen abgepackt (Butter, Marmelade, Wurst, Milch, Schmelzkäse usw. – das gesamte Elend der modernen Lebensmittelindustrie).

Also schnell in die Innenstadt. Das Office de Tourisme öffnet erst um neun Uhr, was uns eine halbe Stunde Zeit für einen Café am Hafen schenkt. Und dann gondeln wir mit einer kostenfreien Karte für den weiteren Weg fröhlich durch die Stadt.

Adieu La Rochelle, der Himmel winkt zum Abschied

Zunächst geht es durch den Parc Charruyer, der sich von den Hafenanlagen bis in den Norden La Rochelles erstreckt. Dort angekommen, passieren wir den örtlichen Tauchklub und kaufen auf der nahen Avenue de Fétilly bei Lidilly  ein.

Wir lernen, dass unsere Radkarte nicht nur kostenfrei war, sondern auch ziemlich wertlos ist. Nach einigen Fehlversuchen und Gesprächen mit unschuldigen Passanten finden wir aber doch einen Radweg, auf dem wir uns weiter verfahren und trotzdem irgendwie nach Nieul-sur-Mer kommen.

Klein und fein und sehr entspannt

Der Ort ist klein und macht einen angenehmen Eindruck. Während Mo das Klo okkupiert, trifft mich ein älterer Herr, der sich als erfahrenen Radler positioniert, uns den weiteren Weg an die Küste und direkt an ihr entlang nordwärts weist. An einigen Stellen erweist sich dieser Weg als ein bisschen schwierig, insgesamt kommen wir aber gut und schön voran.

Kurz vor Esnandes passieren wir einen Flohmarkt mit Hüpfburg und allgemeiner Familienbespaßung, was für alle Beteiligten einige Gefahrenmomente mit sich bringt. Im Ort wechseln wir auf die D105 nach Charron, von wo wir auf der D9 über die Brücke der Sèvre Niortaise fahren, die Charente-Maritime und Vendée trennt.

Einen Hinweis auf die Piste cyclable gibt es nicht, deshalb fahren wir auf dem gut ausgebauten Radweg weiter. Leider in die falsche Richtung.

Il était une fois une piste cyclable ...

Nach drei Kilometern merken wir, dass es so nicht weiter geht, fahren zurück zur Brücke und finden dort tatsächlich einen Hinweis auf die gesuchte Piste. Erst ist sie schwer zu finden, dann schwer zu fahren, weil bis auf einen schmalen Streifen völlig überwuchert.

Nach einigen Kilometern ist der Spuk vorbei, unser Weg mündet in eine asphaltierte Straße, links und rechts stehen kleine bäuerliche Anwesen. Drei andere Radler machen hier Pause, sie kennen sich offensichtlich gut aus und erklären den hinter uns liegenden Weg damit, dass an dieser Stelle vor zwei Jahren eine Riesenwelle den alten Weg wegriss, Farmen überflutete und 40 Menschen und rund 250 Tiere das Leben kostete. Für die folgende Strecke finden sie nur lobende Worte: gut beschildert, guter Belag.

Wir geben Gas und durchqueren auf Wirtschaftswegen riesige Korn- und Paprikafelder. Die Verbindungsstücke zwischen einzelnen Abschnitten des Weges sind schlecht, aber alles ist sehr gut beschildert. Das Korn ist hier bereits deutlich höher als in Deutschland und überall schon fast reif. Bei Saint-Michel-en-l'Herm machen wir in einer offenen Halle Mittagspause – es ist heiß!

Nur tote Fische schwimmen oben, hier sind das alle

Nach rasanter Weiterfahrt erreichen wir La-Tranche-sur-Mer, am Super U gibt's die fünf Schokoladen-Quader, die wir heute morgen bei Lidl erstanden haben (sie sind inzwischen so weich, dass wir sie aus der Verpackung lutschen können) und vier neue Fläschchen Wasser. Damit hat jeder von uns auf knapp 75 km drei Liter verbraucht, da sollte sich Herr Winterkorn mal ein Beispiel nehmen!

Die zunehmende Hitze macht den weiteren Weg zunehmend anstrengend, wir werden über Fußwege links und rechts der Straße geschickt und haben das Gefühl, mehr Sightseeing als Strecke zu machen. Überall blüht der Holunder, dessen intensiver Geruch uns seit den ersten Kilometern dieser Reise begleitet. Als nächsten Ort mit Hotel identifizieren wir Talmont-Saint-Hilaire. Wir reservieren per Telefon aus einer menschenleeren Bar am Rand der Rue de l'Océan in Jard-sur-Mer, wo man körperlich spürt, wie der ganze Ort nur darauf wartet, dass endlich die Saison ausbricht.

Es geht weiter kreuz und quer, bis wir endlich feststellen, dass wir unser Hotel vom Meer aus gar nicht erreichen können. Der Verzweiflung nahe fahren wir in östlicher Richtung zurück, erreichen nach einiger Zeit die D21 und fahren in den Ort hinauf. Zwischendurch schauen wir immer wieder auf den Routenplaner und hoffen, eine Abkürzung zu finden – leider ohne Erfolg. Es gibt nur den Weg hinauf zum Ort. Und dann wieder hinunter zum Strand.

Irgendwann nach sechs und mit knapp 110 Tageskilometern in den Beinen sind wir endlich da, die Leute sind etwas spröde, das Hotel wenig einladend. Wir duschen, Mo ruht etwas, danach nehmen wir die HP: fünf Super-Austern vom Stand gegenüber, Foie gras, Kabeljau-Rücken mit Kartoffelpüree mit Brie de Meaux und die Côte de Cochon pour moi. Dazu einen sehr guten Muscadet! Und sogar die Chefin ist von Gang zu Gang ein wenig aufgetaut.

Vor dem Schlafengehen lerne ich via Skype von meiner Mutter: Im Atlantik kann man nicht schwimmen, Biarritz ist ein Taucherparadies und im Westen ist es abends nicht länger hell als im Osten.

Gute Nacht.

Mittwoch, 22. August 2012

1. Juni 2012, der dreiundzwanzigste Tag: Saint-Trojan-les-Bains–La Rochelle, 92,17 km

Über die Brücken in den Hafen
Nach dem Frühstück ruft Mo bei ihren Eltern an, um den Stand der Dinge zu erfragen, dieses Ansinnen erfährt auf der anderen Seite aber nicht sonderlich viel Gegenliebe. Immerhin wissen wir nun, dass nichts Schlimmes passiert ist, und können um neun Uhr los fahren.

Natürlich nicht, ohne die inzwischen zahlreichen Oldtimer zu bewundern, die teils abgedeckt, teils offen den Hotel-Parkplatz füllen. Von den meisten Herstellern haben wir noch nie gehört, die Mehrzahl der Fahrzeuge ist noch voll und ganz dem traditionellen Kutschenbau verpflichtet und wahrscheinlich vergleichbar spritzig unterwegs.

Was Madame gerne an jedem Auto sähe

Fünf-Speichen-Design gab's bereits zur Jahrhundertwende

Wie bereits gestern Abend erkannt, müssen wir heute zurück über die Brücke. Den Weg kennen wir noch, über Le-Grand-Village-Plage erreichen wir zügig die D26, und auf ihr kommen wir direkt zur Auffahrt. Einerseits haben wir Glück: weniger Verkehr, weniger Wind. Andererseits mindestens genauso viel Angst, denn diesmal wissen wir ab dem ersten Meter, was uns erwartet, und mit einem Idioten von hinten muss man immer rechnen ...

Auch Fischers François fischt frische Fische

Spätestens beim Lesen dieser Zeilen kann der geneigte Leser aber sicher sein, dass alles gut gegangen bzw. gefahren ist. Um das Glück nicht weiter herauszufordern, verlassen wir in Bourcefranc-le-Chapus sofort die große Straße, rollen nach Bourcefranc und dort auf einem von vielen Chemins du Patrimoine erst zum alten Hafen und dann weiter auf einer kleinen Straße nach Hiers-Brouage.


Nicht gerade meerumschlungen, weckt aber  nördlichste Erinnerungen

Von dort geht es auf der D238 an von Kanälen durchzogenen Feldern vorbei in Richtung Saint-Agnant. Wir sehen Störche, Reiher, schwarz-weiße Kühe, frisch geschorene Schafe mit blau gekennzeichnetem Rücken und fühlen uns wie in Schleswig-Holstein.

Ab Saint-Agnant haben wir Probleme mit dem Weg und landen plötzlich auf der vielspurig ausgebauten und stark befahrenen D733. Wir nutzen gleich die nächste Ausfahrt zum Rückzug, erstehen in Les Èronelles ein neues Anti-Mücken-Spray und fahren ohne recht zu wissen, was uns erwartet, stetig geradeaus auf den Pont Transbordeur de Martrou zu.

Der Anblick des schmucken Geräts verschlägt uns die Sprache, gleich danach verschafft es uns eine zwar kurze, aber unvergessliche Überfahrt nach Rochefort.

Wie sollen wir bloß da hoch kommen?

Geschafft: Wir bleiben einfach unten

Die Suche nach der Piste cyclable verschieben wir, erst geht's zu einem riesigen Leclerc, und es dauert lange, bis Mo zurück kommt. Ich schaue drei ambitionierten Jungs zu, die eine ähnliche Tour wie wir machen. Sie kommen nach uns, fahren aber lange vor uns weiter. So ein Stress.

Beim Auto-Service gegenüber kann ich noch mein noch Hinterrad gonflieren lassen, dann machen wir uns erneut auf die Suche nach dem Weg. Ein Motorradfahrer befürchtet, dass wir auf die Autobahn zusteuern, er hält uns an und hilft uns, auf den rechten Weg zu kommen. Nach drei Kilometern machen wir an einem schattigen Plätzchen an der Charente Mittagspause. Ein Fahrlehrer nutzt die wenig befahrene Strecke für Übungsfahrten und Wendemanöver mit einem Schüler. Es wird immer heißer.

Die weitere Beschilderung bis Châtellaillon-Plage ist verheerend. Wir müssen an jeder zweiten Ecke suchen und fragen, zum Teil stehen Wegweiser auf Verkehrsinseln und sind überwuchert. Wir ärgern uns ordentlich, kommen am Ende aber doch an. Der Ort selbst lebt heute von unzähligen Thalasso-Zentren und -Angeboten, wir beschränken uns auf einen Café in Centre ville.

Bei Angoulins nimmt uns ein Radfahrer mit Hund ein Stück mit und weist uns den Weg nach La Rochelle. Entlang der Küste fahren wir durch langgezogene Grünanlagen direkt in den Yachthafen vor der Stadt. Er wird gerade umgebaut, was uns zu größeren Umwegen zwingt. Der Asphalt auf den Straßen hat den Kampf gegen die Sonne leider verloren, er hält sich an unseren Rädern fest und nimmt vom Weg alles mit, war er unterwegs zu fassen kriegt.

Wir müssen leider draußen bleiben – im Yachthafen vor der Stadt

Auf den neuen folgt der alte Hafen, direkt im Stadtzentrum angelegt und von zwei Wehrtürmen gesichert. Wir fahren durch die Buden- und Fahrgeschäftsstraßen der aktuellen Kirmes, finden ein architektonisch führendes Office de Tourisme und dort ein umfassendes Hotelverzeichnis. Draußen vor der Tür will uns eine sehr rüstige Rentnerin beim Suchen helfen; in einem längeren Gespräch erzählt sie von ihren Radreisen und geht mit uns die Vor- und Nachteile der örtlichen Herbergen durch. Wir fahren drei Hütten ab und landen am Ende bei b&b – schwierig für 77 Euro.

Alter Hafen, neue Eindrücke

Abends ziehen wir durch La Rochelle, die Stadt wirkt sehr südlich, ist sehr belebt und kommt sehr französisch rüber. Natürlich essen wir im Touristenviertel: anfangs Austern und einen Krabbenauflauf, später Turbot und Lotte plus einen super Vouvray.

Der Rückweg ist noch interessanter als der Hinweg, entsprechend spät sind wir im Hotel. Aber glücklich.

Überall ausgezeichnete Stimmung, hohe Ansteckungsgefahr

Montag, 20. August 2012

31. Mai 2012, der zweiundzwanzigste Tag: Ruhetag auf der Île d'Oléron

Willkommen zum Oldtimer-Treffen

Endlich mal wieder ausschlafen und spät frühstücken. Ich wechsle die Decke an meinem Hinterrad und stelle fest, dass bislang besseres Material auf der Felge saß. Aber die alte Decke war auch mehr als doppelt so teuer wie die neue.

Mo genießt den Pool, ich arbeite im Büro das Nötigste ab und leiste ihr später Gesellschaft. So geht der Tag ins Land. Obwohl wir erst drei Wochen unterwegs sind, denken wir heute schon an die Heimreise: Ab halb sechs planen wir mit Junior fürs Burgund und buchen die beiden bekannten Hotels. Er wird am 19. Juni mit dem Auto nach Pont-de-Veaux kommen,  sein Rennrad mitbringen und gemeinsam mit uns eine Woche in der Bresse die Hügel rauf und runter düsen.

Um sieben nehmen wir den Apéritif, inzwischen sind auch die ersten Oldtimer da (Autos und Fahrer), die das Hotel zwei Tage lang praktisch ausgebucht haben. Die Halbpension fällt wieder üppig aus: zwei Mal Assiette des Fruits de Mer mit wirklich allem, was das Wasser hergibt, ein Magret de Canard für Mo, und ein Mi-cuit de Thon snacké orientale für mich. Alles super-lecker!

Leider ist der Service heute noch miserabler als gestern. Die Jungs arbeiten völlig ohne System, kratzen sich beim Aufnehmen der Bestellung den Kopf, und einem hängt das Hemd aus Hose, dass man befürchten muss, er steht gleich ohne da.

Nach dem Essen lesen wir, dass Mos Mutter gestürzt ist und sich die Hand gebrochen hat. Das heißt: Ab morgen ist ihr Vater ein paar Nächte allein zu Haus. Mir wird parallel bewusst, dass wir morgen früh wieder über die Brücke des Todes fahren müssen.

Na, gute Nacht.

Nachts sind alle Lampen hell

Sonntag, 19. August 2012

30. Mai 2012, der einundzwanzigste Tag: Soulac-sur-Mer–Saint-Trojan-les-Bains, 86,16 km

Vom Paradies in die Hölle

Nach einem gutem Frühstück fahren wir nochmal an den Strand, um einen Blick aufs Meer zu werfen. Das Strandcafé mit integriertem Gesamtversorgungskonzept hat bereits geöffnet, wir nutzen die Gelegenheit, uns hochpreisig mit Baguette und Wasser zu versorgen.

Vom Amélie-Strand geht's entlang einer wenig befahrenen Straße, an deren Rändern meist gut erhaltene und sehr individuell gestaltete Sommerhäuser der Jahrhundertwende stehen, ins lebhafte Zentrum von Soulac-sur-Mer. Vor uns liegen insgesamt ca. 15 Kilometer bis zur Bac über die Gironde, die Abfertigungszone erinnert an den Fährhafen von Genua, hier muss im Sommer die Hölle los sein.

Wir rollen 20 Minuten vor Abfahrt ein, es ist menschenleer. Die Abfertigung verläuft völlig entspannt, der Preis ist in Ordnung (ist ja Vorsaison). Während wir in den Bauch der Fähre fahren, kommen wir mit einer Deutschen ins Gespräch, die schon seit Jahren hier den Urlaub verbringt und gerne mal „zur Abwechslung“ auf die andere Seite übersetzt.

Das klingt viel versprechend, also rauf aufs Deck und Vorfreude auf die Ankunft in Royan; die Überfahrt dauert etwa 20 Minuten und führt – direkt in die Hölle.

Wer vorne sitzt, sieht das Elend früher

Nach 20 Minuten maritimem Lebensgefühl ...

... werden alle hinaus in die Realität sortiert

Die Stadt war während des 2. Weltkriegs von deutschen Truppen besetzt und wurde durch englische und amerikanische Luftangriffe im Januar bzw. April 1945 vollständig zerstört. Nach dem Krieg wurde sie zum „Laboratorium städtebaulicher Forschung“ erklärt und in diesem Geiste wieder aufgebaut. Davon hat sie sich bis heute nicht erholt und wird sich nach Lage der Dinge auch nie mehr erholen.

Auch unser Telefon leidet unter der Umgebung: Wir haben seit rund einer Stunde kein Netz mehr.

Die MitarbeiterInnen des Office du Tourisme zählen zur Spezies „fleischgewordenes Desinteresse“, im Maison de la Presse haben wir mehr Glück und können eine Karte für die vor uns liegende Charente-Maritime erstehen. Die Devise lautet: Nichts wie weg!

Royan: belebte Betonwüste am Atlantik

Unser Fluchtweg ist lang und führt durch schreckliche Urlauberghettos – La Métaine, Les Groies, Saint-Palais-sur-MerPuyraveau – bis zur Grande Côte (Die große Scheiße). Von dort folgen wir einer gut ausgebauten Piste cyclable, durch Pinienwald und über Dünen geht es ordentlich rauf und runter. Die Mittagspause verlegen wir auf einen Parkplatz unter Bäumen, wir haben immer noch kein Netz, unsere französischen Nachbarn schon.

Auch nach dem Essen bleiben wir auf der Piste, passieren die Schrecken von La Palmyre und erreichen nach Durchquerung weiteren Pinienwaldes den Phare de la Coubre, der seit mehr als 100 Jahren die wilde Küste ziert. An der Tankstelle gegenüber der ClubMed-Anlage in La Palmyre lassen wir nochmal ordentlich Druck auf die Reifen gegeben, die nächsten 16,5 Kilometer nach Ronce-les-Bains gehen wir entsprechend flott an.

Entlang der Küste gehen den Fischern nicht nur Austern ins Netz

107 Jahre Phare de la Coubre: im Westen nichts Neues

Vier Kilometer vor dem Ort entweicht meinem Hinterrad ein lautes pff-pff-pff: Die Decke hat ein Loch, der Schlauch ist kaputt. Ich ärgere mich, dass ich so fest aufgepumpt habe, wechsle den Schlauch und flicke die Decke von innen provisorisch mit einem kleinen Stück Karton – das hält tatsächlich.

In Ronce-le-Bains suchen wir einen Fahrradladen und finden eine Location des vélos, die uns zwar nicht direkt helfen, aber wenigstens eine Adresse im drei Kilometer entfernten La Tremblade nennen kann. Der kleine schwarze Bub, der bei uns im Hof steht, kann nicht akzeptieren, dass nicht-französische Touristen Französisch sprechen, er will partout Englisch mit uns reden. Der Laden in La Tremblade hat tatsächlich eine passende Decke, der Verkäufer ist freundlich wie ein Franke, verlangt aber nur 13 Euro für das – hoffentlich – gute Stück; den Wechsel verschiebe ich auf später.

Im Ort halten wir noch kurz an einem Telefonladen, die Chefin persönlich prüft unsere SIM-Karten und Telefone – Letztere funktionieren einwandfrei, aber wir haben weiterhin kein Netz. In einer Bar an der Hauptstraße nehmen wir einen Café an der Hauptstraße, die Chefin gestattet uns, ihr Telefon für unsere Hotelbuchung zu missbrauchen. An der Theke steht ein toller Hund, sein junges Frauchen pfeift sich zwei, drei demi rein, bevor sie ins Auto steigt. Der Deutsche am Nachbartisch fragt „Ihr seid aber nicht mit dem Fahrrad aus Deutschland hierher gekommen?“, Mo sagt „doch“, er verdreht die Augen.

Auch alte Brücken haben ihre Tücken

Auf der D728E fahren wir hinüber nach Marennes, überall sehen und riechen wir die Austern-Bassins, überall liegen vom Salzwasser angegriffene -Gestänge; noch zwölf Kilometer bis Saint-Trojan-les-Bains, dem heutigen Tagesziel.

Vor uns liegt zunächst die Brücke zur Île d'Oléron. Sie beginnt bei Bourcefranc-le-Chapus, führt in nordwestlicher Richtung dreieinhalb Kilometer übers Meer und bietet Radfahrern und Fußgängern jeweils etwa 60 Zentimeter Überlebensraum seitlich der Fahrspuren. Der Fußgänger hat drei nicht zu unterschätzende Vorteile:

1. Zwischen ihm und den mit 80–100 km/h vorbeidonnernden Autos befindet sich eventuell ein Radfahrer.

2. Der Fußweg liegt etwa 15 Zentimeter höher als die Straße, Autos und Fahrräder kommen da nicht leicht hinauf.

3. Der Fußgänger kann bei Bedarf übers Geländer springen.

Unsere Spur vereint die vorgenannten Nachteile, und wir haben reichlich Zeit, über sie nachzudenken. Außerdem kommt der Wind von links vorn, die Autos halten ihn während der Passage kurz ab und erhöhen damit spürbar die darauf folgende Wirkung, so machen sie ihn völlig unberechenbar. Erfreulicherweise fordert die Überfahrt keine Todesopfer.

Jadgsaison auf der Brücke zur Île d'Oléron

Saint-Trojan-les-Bains ist natürlich nicht ausgeschildert, aber fragen hilft. Unser Hotel ist zunächst ebenfalls kaum zu finden, letztendlich kommen wir aber knapp zwei Stunden vor dem Abendessen an. Die Schweizerin an der Rezeption möchte ihr Deutsch verbessern und hat ein gutes Angebot, plötzlich lebt auch das Telefon wieder. Nach acht Stunden!

Die Halbpension ist günstig, das Zimmer OK, abends gibt es Bulots, Panache de Crevettes et Langostinos, Moules et Frites und Pavé de maigre. Dazu einen schönen Entre deux mers vom Marquis de Fontoy. Nach dem Dessert verlängern wir um einen Tag.

Freitag, 17. August 2012

29. Mai 2012, der zwanzigste Tag: Arès–Soulac-sur-Mer, 107,88 km

Wo die nackten Kerle Urlaub machen

Unser Hotel macht seinem Namen gleich beim Frühstück alle Ehre. Maritimes Ambiente mit Sand von fremden Gestaden in heimischen Gläsern, alles ist hübsch dekoriert. Am Tisch gibt's leckeres Brot und hausgemachte Marmelade, am Nachbartisch sitzen zwei Handwerker, die ihre Arbeit hoffentlich ernster nehmen als ihr Frühstück.

Kurz nach neun fahren wir nach rechts aus der Hoteleinfahrt und auf der Avenue de la Libération ins Ortszentrum. Direkt um die sehenswerte Kirche sind alle erforderlichen Angebote versammelt, wir ziehen uns ordentlich an und kaufen, was das Zeug hält. Die Kassiererin bei Carrefour trällert ein munteres „J'arrive!“ durch den Laden, am Längerwerden der Schlange kann man abmessen, wie ernst sie das nimmt.

Ein Bäcker, der nicht zu viel von seinen Kunden sehen möchte

Arbeitsteilung 2012: Einer kauft ein, einer knipst ab

Auf einer ehemaligen Bahnstrecke, dem Chemin de Gleysaou, rollt unser Frankreich-Express zügig nach Le Porge und von dort weiter nach Lacanau, einem Schwerpunkt der regionalen Tourismus-Szene, die sich hinter dem Dünenstrand rund um zwei großen Süßwasser-Seen ausbreitet. Ein paar Kilometer nördlich des Ortes wechseln wir auf eine lange Strecke durchs Dünen-, Hügel- und Mücken-Reservat.

Auf alter Trasse zu neuen Ufern

Der Weg ist steil und kurvig und führt durch weitläufige Wohnanlagen in den Hügeln zwischen den Seen. Es ist praktisch menschenleer und relativ dunkel, denn der dichte Pinienwald lässt kaum Licht nach unten durch. Die Lage ist eigentlich optimal: nah genug und dabei weit genug entfernt vom Strand.

Im Wald unweit von Hourtin-Plage gibt's nach 65 Kilometern Mittagessen, anschließend sind wir so gestärkt, dass wir erstmal fünf Kilometer Umweg machen, bevor wir die Straße nach Montalivet-les-Bains gefunden haben.

In Sachen Kahlschlag ist der Franzose absolut auf der Höhe

Verkehrs-Infrastrukturmaßnahmen können so natürlich wirken

Die Avenue de l'Europe führt kilometerlang an Campinganlagen vorbei, die sich westlich des Weges aneinander reihen. Wir lesen, dass hinter den Zäunen ein riesiges FKK-Zentrum liegen soll, offensichtlich ist aber noch niemand ein-, geschweige denn ausgezogen.

Die Hitze schmilzt den Asphalt des Radweges, wir verlieren sowohl reichlich Wasser als auch die Lust am Weiterfahren. Nach knapp 90 Kilometern stehen wir im merkantilen Zentrum des Ortes und müssen feststellen, dass wir in der uns umgebenden Trostlosigkeit nicht bleiben wollen. Obwohl wir die Schmerzgrenze zumindest erreicht haben.

Hauptversorger der zu erwartenden Nudisten ist ALDI, außer der Kassiererin spricht im überklimatisierten Laden niemand Französisch (ist ja auch kaum jemand da). Während ich vor dem Laden der etwas unglücklich verlaufenden Konversation eines niederländischen Liegeradlers mit zwei Französinnen meines Alters lausche (es gibt leider keine Sprache, in der sie sich verständigen könnten), findet Mo in den Regalen eine Packung mit fünf großen Quadern aus dunkler Schokolade, die einen intensiv schmeckenden Nougat-Kern umschließen. Die Teile sehen gut aus, bringen dem Körper allerdings jeweils nur schlappe 200 kcal.

Aber was soll man machen in der Not – Madame nimmt zwei, ich alle anderen.

Die Düne, die neben uns wanderte

Der Zucker wirkt schneller als erwartet, am Ortsende erreichen wir den Strand und eine riesige Düne, die bereits weite Teile der Straße erobert hat. Für uns bleibt noch etwas Platz, wir fahren nordwärts nach Soulac-sur-Mer. Ausnahmsweise begünstigt der Wind unser Vorwärtskommen.


Das Hotel liegt einige Kilometer vor dem Ortskern an einem Strand namens L'Amélie, der Patron schlägt vor, die Räder im Weinkeller übernachten zu lassen. Ich frage, ob dort eventuell auch für uns ein Plätzchen frei wäre, und er rät sofort und dringend ab: da unten gebe es sowieso nur Pétrus. Am Ende stehen die Räder im Heizungskeller, und wir tauschen in Zimmer 29 die Rad- gegen die Badeklamotten.


House of the Cool

Zum Strand sind es nur etwas mehr als einhundert Meter, das lässt sich nach dem heutigen Tag gerade noch bewältigen. Schwimmen kann man leider nicht, dafür ist zum einen das Wasser zu kalt (aber es tut richtig gut), zum anderen ist das Baden offiziell verboten, da der Strand nicht überwacht wird. Nach der Dusche kriegt jede/r eine Abreibung mit Neo-Ballistol und ein paar Minuten Pause zugestanden.

Vor dem Essen gönnen wir uns noch einen Lillet und einen Sauternes im Schatten, das Essen selbst – Austern, Cuisses de Canard – ist ausgezeichnet und der Service super. Dazu spielt dezenter Bebop und Cool Jazz, was weder zur Gegend noch zum Essen, noch zu den Gästen passt. Offensichtlich gefällt es aber dem Chef, und wir kommen nebenbei auch auf unsere Kosten.

So geht Urlaub!

Baden verboten, (be)wundern erlaubt