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Dienstag, 27. November 2012

5. Juni 2012, der siebenundzwanzigste Tag: Le Pellerin–Montjean-sur-Loire, 94,95 km

Die Fähre ins Paradies ist kostenlos

Das Frühstück ist mau (nur Konserven), der Wind weht lau (und natürlich aus östlicher Richtung). Im Lokal sitzen zwei, drei weitere Gäste, jeder hat ein Tablett und – wenn wir die Minen richtig deuten – auch einen schweren Tag vor sich.

Der Chef steht am Tresen, heißt uns willkommen und weist uns in die Besonderheiten der dargebotenen Spezialitäten ein. Damit wir ihn gleich wiedererkennen, hat er sein Hemd von gestern nochmal angezogen. Der Koch kommt um acht und folgt dem guten Beispiel seines Baguettegebers – seine Jacke ist sichtbarer Beweis dafür, dass er schon seit Tagen wiedererkannt werden möchte.

Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Fähre, die wir gestern vergeblich gesucht hatten – es gibt sie, sie fährt, und sie fährt vor allem: kostenlos. Der Anleger ist ca. 200 Meter vom Hotel entfernt, nach dem Frühstück rollen wir hin und nach kurzer Wartezeit aufs Deck.

Auf der Bac gilt: Pferde und Radler zuerst

Und hinterm Tresen steht Vanessa

Was uns auf der anderen Seite erwartet, heißt Couëron. Hier haucht die Firma Samco Samoc (oder so ähnlich, man erkennt ja nichts bei dieser Geschwindigkeit) alter Industriearchitektur neues Leben ein, während gegenüber ein mehrstöckiges Haus in der Loire versinkt.

Bei Indre wird die Verkehrsführung etwas unübersichtlich, aber wir kommen trotzdem durch. Die Einfahrt nach Nantes ist von Industrie und dem Atlantik-Hafen geprägt: große Schiffe, Reparatur- und Zulieferbetriebe.

Am 30. Mai war der Weltuntergang ...

Um zehn bremsen wir bei Lidl. Mo ist mit dem Einkaufen dran, ich habe Zeit zu gucken: Am Lycée gegenüber verkauft der lokale Dealer vor Unterrichtsbeginn noch den einen und anderen Leistungsdruck. Auf unserer Seite streicht ein SDF um die parkenden Autos und versucht, retournierenden Lidl-Kunden ein bisschen Bares abzuschwatzen. Eine Kundin schenkt ihm eine Banane; so wie er sie anschaut, wird das nicht der Beginn einer langen Freundschaft.


Unser Weg durch Nantes führt entlang des Flusses, der von moderner Architektur gesäumt wird: Hotels, Ministerien der Départementsregierung und Firmen aller Art. Mit dem Alten hat die Stadt – zumindest optisch – vollständig gebrochen, hier präsentiert sich zeitgemäße Urbanität vom Feinsten. Entlang des Quai de la Fosse verarbeitet Nantes zudem seine führende Rolle bei der Verschiffung von Sklaven in die USA. Von hier legte im 18. Jahrhundert etwa die Hälfte aller französischen Sklavenschiffe ab.


Da soll nochmal einer sagen, in Nantes gäbe es keine alten Häuser!

Wenige Kilometer östlich von Nantes kommen wir bei Mauves-sur-Loire über eine phantastische Brücke, der man ihre 120 Jahre nicht ansieht. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts zwecks Verbindung der Nantaiser mit den Winzern auf der südlichen Loire-Seite errichtet, dafür ist sie ziemlich gerade geworden.

Was Menschen bauen, um an Wein zu kommen

Für uns geht es auf der anderen Seite aber nicht in die Weinberge, sondern bis La Varenne durch riesige Lauch- und Feldsalat-Plantagen, Letztere abgedeckt mit langen, weißen Netzen, alle geplant und angelegt mit der Geradlinigkeit, die den GPS-gestählten Landwirt des 21. Jahrhunderts kenn- und auszeichnet.

Vor Champtoceaux leiten uns die Franzosen mal wieder auf eine Itinéraire provisoire um, und schon nach kurzer Fahrt müssen wir steilst bergauf. Hier sind sie nun also, die Vignoble nantais, deren Steigungen locker mit den neun bis zwölf Prozenten ihrer Weine mithalten können.

Während Mo sich am Ende der Steigung in die Büsche schlägt, kommt eine gut gekleidete Französin im Auto vorbei, lässt das Beifahrerfenster herab und fragt, ob denn bei uns alles in Ordnung sei. Ich kann das bejahen, frage aber freundlich (und natürlich mit anderen Worten) nach, warum genau sie das wissen möchte. Ganz einfach: Sie ist Radweg-Beauftragte der Region und kümmert sich in dieser Eigenschaft um den Weg und die Radfahrer, die ihn befahren.

Bienvenue à La Loire à Vélo!

Achtung, gleich kommt die Radweg-Beauftragte!

Es folgt eine üble Abfahrt, gefolgt von einer ebenso üblen Brücke, gefolgt von Oudon mit seinem sensationellen Schlossturm aus dem 11. Jahrhundert. Wir klettern nicht hinauf, wir brettern neben der Bahnlinie weiter ostwärts.


Kurz vor Ancenis, machen wir Mittagspause in einem vorortlichen Wohngebiet. Irgendwo in der Nähe muss eine Schule sein, denn pausenlos ziehen Grüppchen grinsender Jugendlicher an uns vorbei, die wohl noch nie alte Menschen in Radklamotten beim Mittagessen gesehen haben. Gegenüber kärchert der Mann von Veolia propreté die Abfallcontainer.


Oudon centre, der Schlossturm steht sehr weit links

Es fängt an zu tröpfeln, wir fahren weiter, es tröpfelt stärker, wir suchen einen Platz zum Umziehen und finden einen geräumigen Unterstand mit Toilette (!) im Wald bei Bouzillé. Dort kommen kurz darauf drei Franzosen vorbei, die verständlicherweise ebenfalls anhalten.

Wir kommen ins Gespräch, sie kommen aus Saumur, fahren nach Saint-Brevin und retour. Das sind knapp 400 Kilometer, eine Woche nehmen sie sich dafür Zeit. Wir erzählen, sie erzählen, es entwickelt sich ein nettes Gespräch. Irgendwann wird es dem Regen zu viel,  mit anhören zu müssen, wie wir uns gegenseitig loben.

Er zieht weiter, wir fahren auf frischer Bessunger-Kies-Piste bis Saint-Florent-le-Vieil, und von dort auf einem Deichweg bis zu dem Hotel, das wir für heute eingeplant haben. Vor dessen Tür steht das Pärchen, das wir heute zum vierten Mal ein- und überholen. Sie kommen aus Augsburg, sind in Dijon gestartet, teils selbst, teils mit dem Zug nach Saint-Brevin gefahren und jetzt auf dem Rückweg. Als sie hören, was noch vor uns liegt, warnen Sie uns vor Montceaux-les-Mines.

Ab jetzt kann man den Tag loben

Von dem Hotel sind wir nicht übermäßig begeistert, und weil der Tag noch jung ist, wollen wir uns erstmal eine Alternative im nahen Le Mesnil-en-Vallée anschauen. Dort angekommen, stellen wir fest, dass das gesuchte Hotel das gesehene war. Da wollen wir aber nicht mehr hin und fahren stattdessen auf der D751 nach Montjean-sur-Loire. Dort kaufen wir im Supermarché frisches Wasser und finden direkt am Ufer der Loire eine Auberge mit drei Cocotten.

Patron und Preis sind super, wir gehen duschen, waschen und legen. Ab halb acht gibt's Spargel-Duett mit Ei, Schnecken-Ragout, Loire-Zander, Wachtel, Käse, Dessert und Wein von gleich um die Ecke.

Später ruft noch das Kind an, um zu berichten, dass die Präsentation seiner BA gut lief. Der Bub ist stolz, wir mit ihm, auch auf uns, auch er ...


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