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Freitag, 20. Juli 2012

22. Mai 2012, der dreizehnte Tag: Homps–Castelnaudary, 61,68 km

„Monsieur, c'est très compliqué.“

Nach dem harten Vortag fängt der neue Tag gleich viel besser an: Frühstück im Hotel, Cornflakes für Mo (alles wird gut) und ein kurzes Gespräch mit den schon wieder völlig neu eingekleideten Ohne-Gepäck-Fahrern von gestern Abend.

Das Pärchen kommt aus Belgien und will innerhalb einer Woche von Narbonne nach Toulouse und wieder zurück fahren – insgesamt etwas mehr als 300 Kilometer, also durchschnittlich 40–50 Kilometer am Tag. Das sollte selbst für untrainierte 35-Jährige keine unlösbare Aufgabe sein, besonders wenn man weiß, dass der Schrankkoffer im Materialfahrzeug von Etappenziel zu Etappenziel transportiert wird.

Trotzdem sind beide, wenn auch unausgesprochen, so doch nicht minder offensichtlich unzufrieden. Wir schieben das auf folgenden Hintergrund: ER wollte unbedingt eine Radtour mit ihr machen. So wie „Il était une fois“, voller Romantik, auf zauberhaftem Weg und diesen vielleicht sogar in eine gemeinsame Zukunft. SIE fand diese Idee weniger überzeugend, ließ sich aber durch massive Zugeständnisse seinerseits und einer ebenfalls auf gemeinsame Zukunft ausgerichteten Perspektive ihrerseits breitschlagen (Gepäcktransport, kurze Etappen, evtl. fest fixierte Tempolimits usw.).

Und dann entscheiden sie sich ausgerechnet für den Canal du Midi, ausgerechnet in dieser Woche, die geeignet scheint, jede Beziehung in Matsch und Regen untergehen oder vom Winde verwehen zu lassen! Na dann, weiterhin gute Fahrt!

Bonjour et bienvenue au Canal du Midi

Wir fahren kurz nach halb neun los, der Regen hat verständlicherweise aufgehört, denn er hat dem Weg über Nacht schon derart zugesetzt, dass er am Tag nichts Schlimmeres mehr anrichten kann und deshalb nicht weiter gebraucht wird.

Anfangs spielen wir wieder das Spiel von gestern: unten im Matsch, bis es nicht mehr geht, dann oben im Sturm, bis es nicht mehr geht. Den Höhepunkt dieser äußerst kurzweiligen, weil abwechslungsreichen Form des Reisens erleben wir am Rande der viel befahrenen D610. Irgendwo vor Marseillette zwingt uns der Sturm erst vom Rad und dann dazu, eine längere Strecke zu schieben. Ein bisschen Regen fällt dann auch noch, und so können wir unsere Tour durch ein weiteres bleibendes Erlebnis ergänzen.

Im Ort angekommen, informieren wir uns bei der Boulangeuse nach den Angeboten des ÖPNV (gibt's hier nicht), stärken uns mit zwei Cafés in der Bar gegenüber und machen uns am Ende notgedrungen wieder auf den Weg in den Matsch.

Stadt-, Palast-, Festungs- und Brückenbauer: Vauban, the man

Ein Kanal ist ein Kanal ist ein Kanal (auch wenn er mal nicht so aussieht)

Zum Mittagessen verschlägt es uns bei Trèbes in den (Wind)Schutz einer Bushaltestelle. Gegenüber eine lange, frisch verputzte Mauer, die ein (dem Alter nach) bereits pensionierter Maler mit besonderer Technik färbt: Die Farbe transportiert er in einer großen Schubkarre, mit einem Metalltrichter, wie ich ihn zuvor nur wesentlich kleiner und nur bei den Pommes frites eintütenden Mitarbeitern einschlägiger Burgerbrater gesehen habe, schaufelt er sie in einen Eimer, der wiederum per Schlauch an eine Spritzpistole angeschlossen ist.

Mit ihr geht er entschlossen gegen das schmutzige Weiß der Mauer vor. Er sprüht, was das Zeug hält, der heftige Wind trocknet die Farbe en passant, und der Maler sprüht wieder und wieder über den gerade getrockneten Untergrund. So entsteht vor dem Auge des ungläubigen Betrachters genau jener Eindruck vollkommener Unvollkommenheit, den uns Firmen wie Alpina oder Molto mit passend benannten Produktserien verkaufen möchten.

Le Canal du Midi – très malérique

Wenig später nähern wir uns Carcassonne. Der Regen hat mal wieder aufgehört, es wird etwas wärmer und angenehmer. Vor dem Ortseingang treffen wir den Hund wieder, der im gleichen Hotel wie wir übernachtet hat. Er hat Frauchen im Schlepptau, das sich von ihrem drahtig-knackigen Begleiter durchs Gelände hetzen lässt, weil: Er braucht das.

Eine schöne Strecke führt uns ins Stadtzentrum, um kurz vor drei stehen wir im Hauptbahnhof und ich frage nach einer Bahnverbindung nach Castelnaudary, dem bereits hotelreservierten Ziel der heutigen Etappe. Wir haben die Faxen nämlich ziemlich dicke und uns entschlossen, dem inzwischen doch recht grausamen Spiel mittels Bahnfahrt ein Ende zu machen. Die Dame am Schalter weiß, dass der nächste Zug in zwei Stunden und zehn Minuten fährt, sie sagt auf Nachfrage außerdem, dass die Strecke zu unserem Ziel etwa 35 Kilometer lang ist.

Das bedeutet: eine ziemlich lange Wartezeit für eine ziemlich kurze Strecke. Wir gehen kurz ins uns, entdecken dort den Radfahrer und treffen eine 1a Fehlentscheidung – wir fahren weiter.

Was wir in Carcassonne gelernt haben: Wenn du Bahn fahren willst, dann fahre Bahn!

Am Kanal erwartet uns eine Seenlandschaft, die ein entgegenkommender Radfahrer als vorübergehende Erscheinung beschreibt. Danach soll es besser werden.

Nach zwei Kilometern stellen wir fest, dass richtig und falsch manchmal nah beieinander liefen. Einerseits wird es besser. Andererseits immer noch nicht so gut, dass man von Radfahren sprechen könnte. Irgendwann rutsche ich im Matsch weg und stürze, das hat aber keine nennenswerten Folgen für Ross und Reiter.

Mit der Zeit stellen wir fest, dass unser Stundenmittel auf etwa fünf bis sechs Kilometer gesunken ist. Parallel erkennen wir, dass die von der Bahnfrau genannte Entfernung für die Schiene und nicht für die Schlingen des CdM gilt. Gegen sechs rufe ich in unserem Hotel an und bitte um eine Taxi-Rufnummer, der Kollege am Telefon kann sie mir nicht nennen (s.o.). Ich schlage vor, dass er eine sucht und ich in ein paar Minuten nochmal anrufe.

Es gibt Radwege, da ist man auch mit gutem Rad schlecht beraten

Auch der zweite Anruf bringt keinen Erfolg, mein Gesprächspartner wird nur zunehmend unfreundlich. Per Telefon (endlich machen sich Smartphone und günstiger Telekom-Wochenpass bezahlt) finde ich einen Taxiunternehmer in Castelnaudary, dem ich unser Problem erkläre und der sich bereit erklärt, uns abzuholen. Wir vereinbaren den Ortseingang von Sainte-Eulalie als Treffpunkt, fahren ein paar Hundert Meter und warten in der Einfahrt zum ersten Haus.

Es wird kalt, der Wind nimmt zu, und kein Taxi kommt. Nach zwei weiteren Telefonaten und etwa einer Stunde Wartezeit kommt er dann endlich – er hat uns am anderen Ende der 120-Seelen-Gemeinde gesucht. Die Räder passen tatsächlich in den normalen Mitsubishi, und auch wir finden irgendwo noch Platz. Unterwegs wundert sich unser Fahrer mit uns, dass das Hotel uns keine Telefonnummer geben konnte. Als wir gegen halb acht ankommen, nimmt die Verwunderung zu: Direkt neben dem Haus befindet sich ein Taxi-Halteplatz.

Der Patron wundert sich kurz darauf mit uns, und alle wissen sofort, wer die Sache verbockt hat: der Kellner. Denn außer ihm und einer hoch schwangeren Kollegin gibt es keine weiteren Mitarbeiter. Wir gehen davon aus, dass der Kellner Analphabet ist und die Auskunft einfach nicht geben konnte. Als wir gegen halb neun zum Essen kommen, sind alle ausgesucht freundlich, der Kellner hält Abstand, und es gibt lecker Cassoulet – was auch sonst in der Heimat von diesen und jenen und diesen und jenen.

Dazu einen 2009er Fitou von Bertrand-Bergé, der es sehr gut mit den Bohnen aufnehmen kann.

„Ich fahr' den Matsch von deinen Wegen an meinem Rahmen immer noch mit mir herum.“