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Samstag, 21. Juli 2012

23. Mai 2012, der vierzehnte Tag: Castelnaudary–Toulouse, 67,46 km

„Ihr habt ja 'n Sockenschuss!“

Während wir bei einem guten französischen Frühstück sitzen, hört der Regen langsam auf. Was ebenfalls verschwunden ist: der Sender meines Pulsgurtes, den ich gestern Abend vor dem Duschen – wie immer – abgenommen und auf dem kleinen Tisch im Zimmer platziert hatte. Da ich ihn auch nach dem Frühstück trotz intensiver Suche nicht finde, denke ich darüber nach, ob der lese- und schreibschwache Kellner eventuell während wir am Essen waren ... (ist ja nur ein Gedanke).

Ich fahre erstmal ohne los, das Teil wird sich schon finden.

Erste Station nach dem Auschecken ist der Supermarché auf der anderen Seite des Platzes, zweite Station das Office du Tourisme auf dem Platz. Drinnen ergattere ich eine Karte und weitere Informationen zur Fahrt aus der Stadt, draußen hat die Gattin schon wieder fremdländische Kontakte geknüpft und warnt zwei Französinnen vor dem Weg, der ihnen in Richtung Mittelmeer auflauert.

Kein Wunder, dass man die Bohnen gestern in höchsten Tönen loben konnte

Wir halten uns vom Kanal fern, folgen stattdessen der D33, die wunderbar asphaltiert ist und uns erst über die Autoroute des Deux Mers und danach durch kleine Städtchen wie Mas-Saintes-PuellesMolleville und Baraigne führt. Unsere letzte Station im Département Aude ist Le Ségala, wo wir mal wieder den Weg nicht finden und Kontakt mit den Eingeborenen aufnehmen müssen.

Das mache ich im örtlichen Garten- und Blumenmarkt, dessen Besitzerin gerade eine Kundin durch die Freiluft-Ausstellung der unbezahlbaren Blumentöpfe führt. Während Mo Letztere ablichtet, amüsieren sich die Damen köstlich über den Gedanken, dass ein Mensch (!) mit einem Fahrrad (!!) am Kanal (!!!) von Castelnaudary (!!!!) nach Toulouse (!!!!!) fahren könnte.

Das Vergnügen endet damit, dass die beiden keine Idee haben, wie und wo das gehen mag. Aber sie wissen immerhin, wo der Kanal fließt. Und dort schicken sie uns hin.

Unbezahlbare Mietwohnung für Pflanzen aller Art

Durch eine Schranke führt ein Weg, der diesen Namen jetzt wieder verdient, auf rotem Sand nach Port Lauragais. Wir folgen ihm entlang einer großen Schleife rechts des Kanals und stehen nach Unterquerung einer großen Brücke plötzlich vor einem nicht vorstellbaren Anblick: Der Weg ist asphaltiert!


Wie es dazu kommen konnte, erklärt ein Schild am rechten Wegesrand:


Je besser das Département, desto besser der Weg. Oder war es umgekehrt?

Incroyable, mais vrai!

Vom ersten Schock erholen wir uns schnell, nun heißt es „Kette rechts!“ und mit endlich wieder normalem Tempo die restlichen Kilometer nach Toulouse abspulen.

Unsere Mittagspause verlegen wir auf einen hübsch angelegten Rastplatz auf Höhe von Villefranche-de-Lauragais. Er liegt zwischen Kanal und Autobahn und ist von beiden Verkehrsadern zugänglich. Auf dem Weg dorthin hatten wir schon drei Enten gesehen, die uns offensichtlich hinterher schwammen und kurz vor Ende der Pause an unserem Tisch auftauchen. Die drei machen schnell deutlich, dass sie nicht zum Spaß gekommen sind, sondern um den Tribut zu kassieren. Wir tun so, als hätten wir nichts gehört, und essen schnell die letzten Reste.

Inzwischen haben wir unseren SMS- und E-Mail-Verkehr mit Eva intensiviert, die immer noch keinen konkreten Hinweis darauf hat, dass wir schon wieder auf dem Weg zu ihr sind. Oder sie hofft inständig, dass dieser Kelch an ihr vorüber fahren möge.

Französische Raubvögel anno 2012

Zwei Kilometer vor Toulouse schicken wir das letzte Foto, jetzt sind wir so nah, dass eigentlich nichts mehr schief gehen kann. Die Antwort kommt smswendend: „Vorbeikommen! Jetzt! Sofort!“

Eva, wir sind dir näher als du denkst ...

Die Einfahrt in die Stadt ist sensationell. Auf der anderen Seite des Kanals liegt ein Hausboot hinter dem nächsten. Alte, neue, große, kleine, schöne, hässliche, bewohnte, verlassene – es ist wie ein Film, der langsam an uns vorüberzieht.

Da wir den Canal du Midi inzwischen für den Nabel der Welt halten, folgen wir ihm immer weiter, ohne wirklich zu wissen, wohin das führen soll. Schließlich wohnt Eva auch am Kanal, da werden wir also irgendwann bei ihr vorbei kommen.

Mein Haus, mein Boot, mein Kanal

Dieser auf den ersten Blick schlüssige Gedanke erweist sich spätestens an der Stelle als falsch, an der wir am Treffpunkt der Autobahnen A61, A620 und A623 mit den Europäischen Fernstraßen E72, E80 und E9 sowie diversen unscheinbaren Nationalstraßen wie der D19, D19a und D916 stehen und feststellen, dass es auf dem Trampelpfad entlang der Leitplanke einfach nicht mehr weiter geht.

Leider ist gerade keiner da, den man jetzt nach dem Weg fragen könnte, so dass erneut das Telefon herhalten muss. Es zeigt uns, wo's lang geht: Erst müssen wir ein ganzes Stück zurück, dann durch einen Park, durch die halbe Stadt und am Ende noch schnell über zwei große Brücken. Keine fünf Kilometer später stehen wir vor der gesuchten Tür.

Die Dame des Hauses hat die Flucht ergriffen, ein Handwerker öffnet uns, erklärt, dass Madame gleich wiederkommt, und macht die Tür wieder zu. Sie kommt tatsächlich Sekunden später, schaut uns zweifelnd an und sagt: „Ihr habt ja 'n Sockenschuss!“ Na, wenn das kein freundlicher Empfang ist ...

Hier haben wir uns ein Bett geangelt

Wir müssen mit reinkommen, kriegen ein Zimmer zugewiesen und dürfen duschen. Danach setzen wir uns oben auf die Terrasse, trinken ein Bierchen – wir sind ja völlig unterhopft – und erzählen. Eva ruft ihren Mann an, verabreicht ihm die frohe Botschaft in kleinen Dosen. Er beschließt, den Arbeitstag sofort zu beschließen und heim zu kommen.

So sitzen wir noch ein bisschen zu viert im Freien und machen uns gegen sieben auf den Weg in die Stadt. Den Apéritif nehmen wir im „Le Matin“, das Abendessen gibt's direkt nebenan.

Das Essen ist so lecker wie im Januar, als wir die beiden Tolosains schon einmal überfallen haben. Die Chefin ist so entspannt wie wir sie damals kennenlernten, daran ändert sich auch nichts, als zwanzig juvenile AmerikanerInnen alle noch freien Plätze besetzen. Sie nimmt in aller Ruhe die Bestellungen auf und ruft dann beim Lieferanten ihres Vertrauens an, um Huhn und weitere Zutaten zu bestellen. Kann sein, dass dies die Nahrungsaufnahme etwas verzögert, dafür ist alles frisch.

Wir sind das definitiv nicht mehr, deshalb gehen wir schlafen. Morgen haben wir einen harten Ruhetag vor uns.

So enden schöne Abende in Toulouse