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Sonntag, 19. August 2012

30. Mai 2012, der einundzwanzigste Tag: Soulac-sur-Mer–Saint-Trojan-les-Bains, 86,16 km

Vom Paradies in die Hölle

Nach einem gutem Frühstück fahren wir nochmal an den Strand, um einen Blick aufs Meer zu werfen. Das Strandcafé mit integriertem Gesamtversorgungskonzept hat bereits geöffnet, wir nutzen die Gelegenheit, uns hochpreisig mit Baguette und Wasser zu versorgen.

Vom Amélie-Strand geht's entlang einer wenig befahrenen Straße, an deren Rändern meist gut erhaltene und sehr individuell gestaltete Sommerhäuser der Jahrhundertwende stehen, ins lebhafte Zentrum von Soulac-sur-Mer. Vor uns liegen insgesamt ca. 15 Kilometer bis zur Bac über die Gironde, die Abfertigungszone erinnert an den Fährhafen von Genua, hier muss im Sommer die Hölle los sein.

Wir rollen 20 Minuten vor Abfahrt ein, es ist menschenleer. Die Abfertigung verläuft völlig entspannt, der Preis ist in Ordnung (ist ja Vorsaison). Während wir in den Bauch der Fähre fahren, kommen wir mit einer Deutschen ins Gespräch, die schon seit Jahren hier den Urlaub verbringt und gerne mal „zur Abwechslung“ auf die andere Seite übersetzt.

Das klingt viel versprechend, also rauf aufs Deck und Vorfreude auf die Ankunft in Royan; die Überfahrt dauert etwa 20 Minuten und führt – direkt in die Hölle.

Wer vorne sitzt, sieht das Elend früher

Nach 20 Minuten maritimem Lebensgefühl ...

... werden alle hinaus in die Realität sortiert

Die Stadt war während des 2. Weltkriegs von deutschen Truppen besetzt und wurde durch englische und amerikanische Luftangriffe im Januar bzw. April 1945 vollständig zerstört. Nach dem Krieg wurde sie zum „Laboratorium städtebaulicher Forschung“ erklärt und in diesem Geiste wieder aufgebaut. Davon hat sie sich bis heute nicht erholt und wird sich nach Lage der Dinge auch nie mehr erholen.

Auch unser Telefon leidet unter der Umgebung: Wir haben seit rund einer Stunde kein Netz mehr.

Die MitarbeiterInnen des Office du Tourisme zählen zur Spezies „fleischgewordenes Desinteresse“, im Maison de la Presse haben wir mehr Glück und können eine Karte für die vor uns liegende Charente-Maritime erstehen. Die Devise lautet: Nichts wie weg!

Royan: belebte Betonwüste am Atlantik

Unser Fluchtweg ist lang und führt durch schreckliche Urlauberghettos – La Métaine, Les Groies, Saint-Palais-sur-MerPuyraveau – bis zur Grande Côte (Die große Scheiße). Von dort folgen wir einer gut ausgebauten Piste cyclable, durch Pinienwald und über Dünen geht es ordentlich rauf und runter. Die Mittagspause verlegen wir auf einen Parkplatz unter Bäumen, wir haben immer noch kein Netz, unsere französischen Nachbarn schon.

Auch nach dem Essen bleiben wir auf der Piste, passieren die Schrecken von La Palmyre und erreichen nach Durchquerung weiteren Pinienwaldes den Phare de la Coubre, der seit mehr als 100 Jahren die wilde Küste ziert. An der Tankstelle gegenüber der ClubMed-Anlage in La Palmyre lassen wir nochmal ordentlich Druck auf die Reifen gegeben, die nächsten 16,5 Kilometer nach Ronce-les-Bains gehen wir entsprechend flott an.

Entlang der Küste gehen den Fischern nicht nur Austern ins Netz

107 Jahre Phare de la Coubre: im Westen nichts Neues

Vier Kilometer vor dem Ort entweicht meinem Hinterrad ein lautes pff-pff-pff: Die Decke hat ein Loch, der Schlauch ist kaputt. Ich ärgere mich, dass ich so fest aufgepumpt habe, wechsle den Schlauch und flicke die Decke von innen provisorisch mit einem kleinen Stück Karton – das hält tatsächlich.

In Ronce-le-Bains suchen wir einen Fahrradladen und finden eine Location des vélos, die uns zwar nicht direkt helfen, aber wenigstens eine Adresse im drei Kilometer entfernten La Tremblade nennen kann. Der kleine schwarze Bub, der bei uns im Hof steht, kann nicht akzeptieren, dass nicht-französische Touristen Französisch sprechen, er will partout Englisch mit uns reden. Der Laden in La Tremblade hat tatsächlich eine passende Decke, der Verkäufer ist freundlich wie ein Franke, verlangt aber nur 13 Euro für das – hoffentlich – gute Stück; den Wechsel verschiebe ich auf später.

Im Ort halten wir noch kurz an einem Telefonladen, die Chefin persönlich prüft unsere SIM-Karten und Telefone – Letztere funktionieren einwandfrei, aber wir haben weiterhin kein Netz. In einer Bar an der Hauptstraße nehmen wir einen Café an der Hauptstraße, die Chefin gestattet uns, ihr Telefon für unsere Hotelbuchung zu missbrauchen. An der Theke steht ein toller Hund, sein junges Frauchen pfeift sich zwei, drei demi rein, bevor sie ins Auto steigt. Der Deutsche am Nachbartisch fragt „Ihr seid aber nicht mit dem Fahrrad aus Deutschland hierher gekommen?“, Mo sagt „doch“, er verdreht die Augen.

Auch alte Brücken haben ihre Tücken

Auf der D728E fahren wir hinüber nach Marennes, überall sehen und riechen wir die Austern-Bassins, überall liegen vom Salzwasser angegriffene -Gestänge; noch zwölf Kilometer bis Saint-Trojan-les-Bains, dem heutigen Tagesziel.

Vor uns liegt zunächst die Brücke zur Île d'Oléron. Sie beginnt bei Bourcefranc-le-Chapus, führt in nordwestlicher Richtung dreieinhalb Kilometer übers Meer und bietet Radfahrern und Fußgängern jeweils etwa 60 Zentimeter Überlebensraum seitlich der Fahrspuren. Der Fußgänger hat drei nicht zu unterschätzende Vorteile:

1. Zwischen ihm und den mit 80–100 km/h vorbeidonnernden Autos befindet sich eventuell ein Radfahrer.

2. Der Fußweg liegt etwa 15 Zentimeter höher als die Straße, Autos und Fahrräder kommen da nicht leicht hinauf.

3. Der Fußgänger kann bei Bedarf übers Geländer springen.

Unsere Spur vereint die vorgenannten Nachteile, und wir haben reichlich Zeit, über sie nachzudenken. Außerdem kommt der Wind von links vorn, die Autos halten ihn während der Passage kurz ab und erhöhen damit spürbar die darauf folgende Wirkung, so machen sie ihn völlig unberechenbar. Erfreulicherweise fordert die Überfahrt keine Todesopfer.

Jadgsaison auf der Brücke zur Île d'Oléron

Saint-Trojan-les-Bains ist natürlich nicht ausgeschildert, aber fragen hilft. Unser Hotel ist zunächst ebenfalls kaum zu finden, letztendlich kommen wir aber knapp zwei Stunden vor dem Abendessen an. Die Schweizerin an der Rezeption möchte ihr Deutsch verbessern und hat ein gutes Angebot, plötzlich lebt auch das Telefon wieder. Nach acht Stunden!

Die Halbpension ist günstig, das Zimmer OK, abends gibt es Bulots, Panache de Crevettes et Langostinos, Moules et Frites und Pavé de maigre. Dazu einen schönen Entre deux mers vom Marquis de Fontoy. Nach dem Dessert verlängern wir um einen Tag.